Kapitel 3

 

Die "Konstruktion" reeller Zahlen als Restklassenkörper

 

 

3.3.1 Was „ist“ eine irrationale Zahl?

 

I. - Wir haben nach dem historischen Ursprung der Entwicklung von irrationalen Zahlen gefragt, und dabei auf die nach wie vor praktizierte Motivation der Begründung solcher Zahlen durch das „klassische“ Beispiel  verwiesen. Für die systematische Entwicklung der Analysis sind solche illustrierenden Beispiele allerdings nicht von Bedeutung. Grundsätzlich wird diese Entwicklung in ihrer axiomatischen Form unabhängig von der Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Zahlen "durchgezogen". So wie die aus dieser Entwicklung heraus resultierenden Sätze formuliert sind, sind sie unterschiedslos für rationale und irrationale Zahlen formuliert. Aus der Position bzw. Darstellung dieser Begründung herausaus könnte eine solche Unterscheidung nicht einmal vorgenommen werden.

Es gibt dafür im Axiomensystem der reellen Zahlen einfach keinen Anhaltspunkt. Diese Begründung erfolgt gänzlich darstellungsunabhängig, und dann erfolgt sie insbesondere auch unabhängig von irgendwelchen Unterscheidungen zwischen einzelnen Zahlbereichen. Eine Definition der Menge der rationalen Zahlen ist dagegen nicht auch in gleicher Weise darstellungsunabhängig möglich. Man kann diesen Zahlkörper als „Körper  der Brüche“ des Integritätsringes  im Körper der reellen Zahlen  definieren. Das ist die abstraktest-mögliche Form der Definition dieser Zahlen. Wie abstrakt aber kann eine Definition des Integritätsringes Z der ganzen Zahlen sein? Davon hängt dann eben auch ab, wie abstrakt eine Definition des Körpers der Brüche  dieses Integritätsringes sein kann. Bis auf das Vorzeichen ist eine Definition der ganzen Zahlen identisch mit der Definition der natürlichen Zahlen, und so ist die Frage schließlich die, wie abstrakt eine Definition dieser natürlichen Zahlen sein kann.

Wir wissen, wie das mit den natürlichen Zahlen und ihrer Einbettung in die reellen Zahlen ist. Diese Einbettung erfolgt über die Identifizierung der natürlichen 1 mit der reellen 1. Man kann sich das mit dieser Einbettung aber auch sparen, wenn – von Anfang an – die natürliche 1 einfach der reellen 1 gleichgesetzt wird. Man wird dann nur in der Definition dieser Zahlen etwas variieren müssen. Man wird diese Menge der natürlichen Zahlen nicht weiter von einer Abbildung bestimmt sein lassen können; man wird vielmehr für diese Zahlen eine rein mengentheoretische Begründung geben müssen. Die Menge  der natürlichen Zahlen wird dann – darauf wurde auch an anderer Stelle schon hingewiesen – als die kleinste Teilmenge von R erklärt, für welche gilt: a) ; b) Ist , so auch , wobei mit der 1 – ansatzgemäß – nur die reelle 1 gemeint sein kann.

 Das mit der Eigenschaft, kleinste Teilmenge dieser Art zu sein, findet seinen präzisen mathematischen Ausdruck im sogenannten Induktionsprinzip, besser bekannt auch als „Prinzip der vollständigen Induktion“. Dieses Prinzip ist von einer allgemeinen beweistechnischen Bedeutung überall dort, wo es um Behauptungen geht, die in einer – allgemeinen – Abhängigkeit von der Menge der natürlichen Zahlen, und d. h, die in Abhängigkeit von der Variablen n stellvertretend für jede x-beliebige natürliche Zahl n definiert sind. Wenn also nachgewiesen werden soll, daß eine bestimmte – in allgemeiner Abhängigkeit von der Menge der natürlichen Zahl formulierte – Behauptung zutrifft, dann zeigt man eben, daß diese Behauptung für die natürliche 1 zutrifft, und daß sie auch für n + 1 zutrifft, wenn sie für  zutrifft. Das Induktionsprinzip ist Teil der Peano-Axiome. Das Induktionsprinzip ist äquivalent mit einer anderen Eigenschaft der Menge der natürlichen Zahlen, der sogenannten Wohlordnungseigenschaft.[98] Gemeint ist damit, daß jede nichtleere Teilmenge der Menge der natürlichen Zahlen ein kleinstes Element hat. Wenn gesagt wurde, daß diese Eigenschaft eine dem Induktionsprinzip äquivalente Eigenschaft der Menge der natürlichen Zahlen ist, so hat dies zu bedeuten, daß eines der beiden Prinzipien notwendig Bestandteil einer axiomatischen Begründung der Menge der natürlichen Zahlen ist. Äquivalent bedeutet in diesem Zusammenhang, daß sich jedes dieser beiden Axiome mit Hilfe des jeweils anderen Axioms bzw. der anderen Axiome des ganzen Axiomensystems beweisen läßt.[99]

Wir haben gefragt nach der abstraktest-möglichen Form der Definition bzw. Begründung natürlicher Zahlen. Wir haben uns diese Frage deswegen gestellt, weil wir wissen wollten, auf welch niedrigst-möglichem Niveau in der Menge der reellen Zahlen zwischen rationalen und nicht-rationalen Zahlen unterschieden werden kann. Das Axiomensystem der Menge der reellen Zahlen enthält diesbezüglich keinerlei Ansatzpunkte. Dieses Axiomensystem gilt – wie gesagt – in seiner ganzen Allgemeinheit in gleicher Weise der Begründung rationaler wie auch irrationaler Zahlen. Eine solche Unterscheidung wird erst dann möglich, wenn man die natürlichen Zahlen mit einer Teilmenge der reellen Zahlen identifiziert hat, und darauf aufbauend zur Konstruktion ganzer bzw. auch rationaler Zahlen übergehen kann. Daß mit diesen rationalen Zahlen die vorgegebene Menge der reellen Zahlen noch nicht ausgeschöpft ist, das sieht man dann beispielsweise insbesondere daran, daß es zur Zahl 2 in der Menge der rationalen Zahlen keine Quadratwurzel gibt. Dem Axiomensystem der reellen Zahlen läßt sich dagegen entnehmen, daß es eine solche Quadratwurzel nicht nur zur Zahl 2, sondern für jede positive reelle Zahl gibt. Also gibt es in der Menge reeller Zahlen auch noch andere als rationale Zahlen.

Es ist dies eine darstellungsbezogene Erkenntnis. Daß es zu jeder positiven rationalen Zahl nicht auch eine rationale Quadratwurzel gibt, das läßt sich nicht allgemein beweisen, weil es auch nicht allgemein gilt. Schließlich gibt es zu vielen positiven rationalen Zahlen auch eine rationale Quadratwurzel. So etwas muß im Einzelfall immer überprüft werden. Die allgemeine Darstellung rationaler Zahlen als Quotienten ganzer Zahlen kann diesbezüglich dann nicht aussagefähig sein, wenn es sowohl rationale Zahlen mit rationaler Quadratwurzel als auch rationale Zahlen ohne rationale Quadratwurzel gibt. Wie sich das im Einzelfall verhält, müßte im Einzelfall anhand einer konkreten Darstellung der betreffenden Zahl nachgewiesen werden. Dieser Beweis kann für den Fall, daß es keine rationale Quadratwurzel gibt (gibt es sie, dann gibt man sie am besten einfach an), aber auch nur indirekt geführt werden, indem man die Annahme es gäbe eine Darstellung , p, , q ¹ 0 für die Quadratwurzel der betreffenden Zahl zu einem Widerspruch führt.

Insofern wird dieser Beweis dann auch schon wieder allgemein geführt. Daß es keine rationale Zahl gibt, die Quadratwurzel einer bestimmten rationalen Zahl ist, diesen Nachweis kann man auch nur allgemein führen, indem man zeigt, daß jede nur denkbare rationale Zahl als mögliche Quadratwurzel einer bestimmten rationalen Zahl ausscheidet. Daß dem so ist – wenn dem auch so ist – kann dann nur an der betreffenden Zahl, nach deren Quadratwurzel wir suchen, liegen. Diese Zahl erschließt sich uns in ihrer konkreten Existenz bzw. Identität nur über deren Identifizierung mit einer bestimmten Darstellung – will heißen Zeichenfolge – aus dem der Darstellung der Menge der rationalen Zahlen zugrunde gelegten Systems von (Polynom-)Darstellung. Wir könnten anders einfach nicht wissen, mit welcher konkreten Zahl wir es zu tun haben bzw. zu tun haben wollen. Die Zahl als solche ist in ihrer immateriellen Realität natürlich unabhängig von ihrer materiellen Darstellung. Eine rationale Zahl läßt sich schließlich auf die verschiedenste Weise als endliche bzw. periodisch-unendliche Zeichenfolge darstellen. Das hängt zum einen – natürlich – vom (aus-)gewählten Zahlenmaterial, und zum anderen von der Basis der (Polynom-)darstellung, mit der man die Produktion der natürlichen Zahlen aufgenommen hat, ab. Dieses System der Darstellung überträgt sich dann – mutatis mutandis – auch auf alle anderen Zahlbereiche. Gleichbleibend ist immer nur das (entsprechend erweiterte) System, nach dem in der Darstellung rationaler Zahlen, so wie zuvor auch schon in der Darstellung natürlicher sowie ganzer Zahlen vorgegangen wird. Dieses System ist insoweit auch Element der immateriellen Realität – aller – dieser Zahlen.

Die Eigenschaften, die insbesondere eine natürliche Zahl auszeichnen, haben nichts mit der Zeichenfolge zu tun, der wir uns zur Darstellung so einer Zahl bedienen. Daß jede mit 2 multiplizierte natürliche Zahl eine gerade Zahl ist, hat nichts mit der Darstellung der Zahl 2 durch das Zeichen 2 zu tun. Es hat allerdings damit zu tun, daß dieses Zeichen im Dezimalsystem der Darstellung natürlicher Zahlen an einer bestimmten Stelle steht. Eine natürliche Zahl besteht insoweit ihrer immateriellen Realität und Identität nach in einer absolut gesetzten Position im allgemeinen Positionensystem einer jeden Reihenfolge, soweit sich darin eine Position auch absolut setzen läßt. Man kann in jedem System von Polynom-Darstellung natürlicher Zahlen auch in den einzelnen Zeichenfolgen dieses Systems nur auf das Gesetz der Serie sehen, das alle diese Zeichenfolgen miteinander verbindet, und das uns insbesondere von einer Zeichenfolge auf die dieser Folge im ganzen System solcher Folgen folgende Folge schließen läßt. Man kann sich aber auch – wenn auch nur in Kenntnis dieses Gesetzes der Serie bzw. der Zeichenfolgen, die daraus in Reihenfolge hervorgehen – ganz auf die einzelne Zeichenfolge konzentrieren, indem diese mit der – festen – Position identifiziert wird, die sie in der Reihenfolge aller dieser – konventionellerweise – Zeichenfolgen einnimmt. Je intensiver man diese Reihenfolge verinnerlicht hat, umso weniger wird uns die einzelne Zeichenfolge noch an die ganze Reihenfolge solcher Folgen denken lassen. Die einzelne Zeichenfolge wird dann vielmehr „sofort“ mit der Position und mithin auch Zahl identifiziert, die sie in der Reihenfolge aller dieser Zeichenfolgen einnimmt.

 Einen „stationären“, Charakter erhält die einzelne Zeichenfolge aber auch durch das System der Gewichtung, dem die Interpretation aller dieser Zeichenfolgen folgt. Dieses System der Gewichtung in den Positionen trägt im Kombinationsmechanismus dieser Zeichenfolgen zusätzlich zur intelligiblen bzw. kommunikativen Qualität der einzelnen Zeichenfolge bei. Das gilt dann natürlich auch für alles, was sich an Zahlen aus der Menge der natürlichen Zahlen konstruktiv ableiten läßt, die Menge der ganzen bzw. der rationalen sowie – letztlich – auch der reellen Zahlen nämlich. Das, was in der Mathematik an Begründung der natürlichen Zahlen angeboten wird, ist insgesamt nicht von dieser intelligiblen bzw. kommunikativen Qualität. Verwendung finden die natürlichen Zahlen – wie selbstverständlich – aber auch in der Analysis nur in der diesen Zahlen natürlichen Polynom-Darstellung als Zahlenreihe 1,2,3,.... Schließlich kann nur mit dieserart Zahlen auch gerechnet werden, was wir unter Rechnen nun einmal so verstehen. Es findet sich diese Zahlenreihe bzw. das dieser Reihe zugrundeliegende System gleichwohl in keiner der für die natürlichen Zahlen angebotenen Begründungen in Mathematik und Philosophie wieder. Offenbar sieht es keine dieser Begründungen als ihre Aufgabe an, die natürlichen Zahlen gerade in dem diesen Zahlen natürlichen System von Darstellung aufzunehmen. Dadurch, daß die Menge der natürlichen Zahlen als die kleinste Teilmenge von R erklärt wird, die die – reelle – 1 und mit jeder natürlichen Zahl n auch n + 1 enthält, ist diese Menge der natürlichen Zahlen nicht auch schon dargestellt.

Die Menge der natürlichen Zahlen wird in dieser Erklärung einfach verstanden als diejenige Menge, die man bekommt, wenn man von der 1 ausgehend eine Folge von Summen bildet, in der die einzelne Folge aus der vorhergehenden Folge durch – eine zusätzliche – Addition der 1 hervorgeht. Das ist die Vorstellung, die hinter dieser Erklärung steht, und die im übrigen schon auch unsere Vorstellung von den natürlichen Zahlen (mit-)bestimmt. Operativ geht jede natürliche Zahl aus der vorhergehenden Zahl durch Addition der 1 hervor. Das ist nun allerdings nichts, was notwendig auch aus der systematischen Produktion der die Menge der natürlichen Zahlen darstellenden Reihenfolge von Zeichenfolgen folgen würde. Diese Produktion ist ohne operative mathematische Qualität. Deswegen auch scheint dieses (Produktions-)verfahren mathematisch wenig interessant zu sein.

Zu einem möglichen Objekt der mathematischen Analyse wird dieses Verfahren erst dadurch, daß man dem Übergang von einer Zeichenfolge zur anderen eine – gleichbleibende – operative Qualität gibt. Die Produktion dieser Zeichenfolgen darf dann nicht weiter – einfach – nur auf die systematische Kombination endlich vieler vorgegebener Zeichen zurückgeführt werden (was sollte das mathematisch auch bedeuten); die einzelne Zeichenfolge muß sich vielmehr auch operativ aus der ihr vorhergehenden Zeichenfolge ableiten lassen. In natürlicher Weise bietet sich dafür die Addition der 1 an. Eine operative Qualität bekommt das ganze Verfahren so aber auch nur, wenn diese Addition immer auch ausgeführt und nicht einfach nur angedeutet werden kann. Effektiv ausgeführt werden kann diese Addition aber auch nur im System der Zeichenfolgen unseres Verfahrens. Es ist diese operative – additive – Deutung für dieses System bzw. dieses Verfahren nur nicht auch konstitutiv. Wir benötigen diese operative Deutung nur, um mit diesem Verfahren auch mathematisch etwas anfangen zu können. Diese operative Deutung hat anscheinend aber auch zur Folge, daß man darüber ganz das Verfahren zur Produktion aller dieser Zeichenfolgen vergißt. Man setzt diese Zeichenfolgen dann einfach als gegeben voraus. Daß es dazu auch – bei unendlichen Mengen geht das nun einmal nicht anders – eines ganzen Systems von Produktion bedarf, darüber wird dann einfach hinweggesehen.

 

II. - Was die Begründung der natürlichen Zahlen anbelangt, scheint sich die Mathematik für dieses Verfahren herzlich wenig zu interessieren. Die Menge der natürlichen Zahlen findet ihre Erklärung einfach in der Vorstellung einer aus der 1 heraus sich durch fortgesetzte Addition der 1 entwickelnden Menge. Dabei wird vollständig von allen Darstellungsfragen abstrahiert. Als eine bestimmte Anzahl von Einsen kann eine natürliche Zahl aber dann nicht dargestellt werden, wenn wir uns von einer solcherart dargestellten Zahl nicht auch sagen lassen können, in welcher Anzahl die 1 in diese ihre Darstellung eingeht. Das kann man sich von so einer operativ nicht ausgeführten Darstellung nicht sagen lassen. Das kann man sich nur von den Zeichenfolgen unseres (Produktions-)verfahrens sagen lassen. In den von diesem Verfahren produzierten Zeichenfolgen findet sich jede endliche Summe von Einsen in genau einer ganz bestimmten Zeichenfolge – „zusammengefaßt“ – wieder. Es wird uns durch eine jede solche Zeichenfolge – in einem engeren sprachlichen Sinne – „gesagt“, welche Summe von Einsen in dieser einen Zeichenfolge zusammengefaßt ist. So eine Zeichenfolge steht dann einfach auch für den Summenwert einer solchen Summe. Sie steht zudem auch für eine ganz bestimmte natürliche Zahl.

Von dieser Form der Darstellung wird also in den „gängigen“ Begründungen der Menge der natürlichen Zahlen abstrahiert, obwohl diese Darstellung auch die einzig „aussagefähige“ Darstellung ist. Von dieser Darstellung nicht abstrahieren wollen hieße allerdings auch, sich dem Verfahren dieser Darstellung um dieses Verfahrens selbst willen zuwenden zu müssen, und das ist nun einmal auf eine mathematische Art und Weise nicht möglich. Also läßt man das auch bleiben. Man sieht offenbar auch keine Notwendigkeit, auf diese Form der Darstellung zurückzugreifen, wenn es darum geht, einen Existenz- bzw. Eindeutigkeitsbeweis für die Menge der natürlichen Zahlen zu führen. Auch dann beläßt man es noch bei einer abstrakten – weil konkret nichtssagenden bzw. konkret nicht identifizierbaren – Vorstellung von Anzahl. Das ist nun aber gerade nichts, womit man im konkreten Umgang mit natürlichen Zahlen etwas anfangen könnte. Nur als Zeichenfolgen, so wie sie aus dem allgemeinen Verfahren zur Darstellung natürlicher Zahlen hervorgehen, entfalten diese Zahlen auch ihre ganze Kommunikabilität und Intelligibilität. Jeder andere Versuch der Begründung bzw. Darstellung dieser Zahlen bleibt notwendig hinter der ungeschmälerten Realität und Identität dieser Zahlen zurück. Wo in der Mathematik auf natürliche Zahlen zurückgegriffen wird, wird darauf schließlich auch nur in Form und Gestalt der Zeichenfolgen zurückgegriffen, wie sie systema-tisch aus dem allgemeinen Verfahren  zur  Darstellung der Menge der natürlicher Zahlen hervorgehen.

Die in der Mathematik alternativ angebotenen „Modelle“ sind schlicht und einfach nicht praktikabel. Man kann beispielsweise eine natürliche Zahl nicht gut als Summe einer gewissen Anzahl von Einsen dargestellt haben wollen, wenn es uns nicht um diese Summe, sondern nur um den Summenwert geht. Dieser Summenwert ist auch nicht dadurch festgestellt, daß man das Pluszeichen zwischen den einzelnen Einsen streicht. Damit ist keine Addition ausgeführt, sondern lediglich die zu addierende Menge von Einsen gebildet. Bei bloßen „Ein-Zeichen-Folgen“ kommt es auch nicht auf die Reihenfolge an, in der die einzelnen Zeichen gesetzt werden. Man kann so einer Zeichenfolge jede nur mögliche – räumliche – Anordnung geben. Es kommt allein darauf an, daß die Zugehörigkeit der einzelnen Zeichen zu einer einzigen Zeichenmenge ausreichend eindeutig dokumentiert ist. Die natürlichste Form der Darstellung ist unter diesem Aspekt aber sicherlich auch die Darstellung in gerader Linie bzw. Reihenfolge.

Man kann in diesem „System“ von Darstellung natürlich auch zwei Mengen zu einer Menge vereinigen. In der mengentheoretischen Begründung der Menge der natürlichen Zahlen dient dieses Verfahren dazu, die Summe zweier natürlicher Zahlen zu definieren.[100] Wir sind auf diesen Ansatz – in anderem Zusammenhang allerdings – an anderer Stelle auch schon ausführlich eingegangen. Es dient dieser Ansatz auch dazu, die axiomatisch bereits begründete Menge der natürlichen Zahlen auch als eine existente Menge nachzuweisen. Unter einer natürlichen Zahl wird dann einfach eine Äquivalenzklasse gleichmächtiger Mengen verstanden. Die Kritik an diesem Ansatz war – wie gesehen – die, daß damit nur ein gegenständlicher, nicht aber auch sprachlicher Umgang mit natürlichen Zahlen möglich ist. Wir sind in so einem System ohne jede Möglichkeit der sprachlichen Identifizierung natürlicher Zahlen. Auf diese Weise lassen sich natürliche Zahlen nur demonstrieren, nicht aber auch identifizieren. Natürliche Zahlen können in so einem System nicht beziffert werden, und damit kann in diesem System mit solchen Zahlen auch nicht gerechnet werden. Um festzustellen, wie mächtig eine Menge ist, ist die Anzahl der Elemente dieser Menge zu bestimmen, und dazu muß dann einfach abgezählt werden. Es gibt keine mengentheoretische Operation, die eine Menge abzählen könnte. Intelligibel gestaltet werden kann eine natürliche Zahl auch in der dadurch bezeichneten Anzahl nur in einem System von Polynom-Darstellung dieser Zahlen. Nur in so einer Darstellung kann mit natürlichen Zahlen auch – algorithmisch – verfahren werden.

 Die Algorithmen für die einzelnen Grundrechnungsarten setzen eine entsprechende Darstellung der einzelnen natürlichen Zahlen voraus. Nur Zahlen in so einem System von Darstellung lassen sich – nach den bekannten Rechenverfahren – addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren. Mengen kann man dagegen nur vereinigen, verringern, vervielfältigen und zerlegen. Das sind beides qualitativ unterschiedliche Klassen von Operationen. In der – existentiellen – Begründung der natürlichen Zahlen wird in der Mathematik gerade von dem abgesehen, was uns die natürlichen Zahlen existentiell erschließt, das System von Polynom-Darstellung dieser Zahlen nämlich. Das liegt – wie wir wissen – offenbar daran, daß im Gegensatz zu allen mengentheoretischen Operationen das diesem System von Darstellung zugrunde liegende Verfahren von keiner operativen mathematischen Qualität ist. Eine solche Qualität fließt diesem Verfahren erst dadurch zu, daß der einzelne Verfahrensschritt als Addition der 1 interpretiert wird. Es kann deswegen in der Darstellung des Ergebnisses der einzelnen Verfahrenschritte aber auch nicht von dem durch dieses Verfahren begründeten System von Zeichenfolgen, abgesehen werden. Von der Vorstellung als einer Summe endlich vieler Einsen ist unsere Vorstellung der einzelnen natürlichen Zahl nur verfahrens- bzw. produktionstechnisch nicht – eigentlich – bestimmt.

Man sollte hier schon genau differenzieren. Das mit dieser fortgesetzten Addition der Eins versteht sich verfahren- bzw. produktionstechnisch von daher, daß von Zeichenfolge zu Zeichenfolge einfach nur einen Schritt weitergegangen wird bzw. gegangen ist. Mit jeder neuen Zeichenfolge wird bzw. ist einfach eine Zeichenfolge mehr gesetzt. Von daher versteht sich schließlich auch der Vorgang des Abzählens. Auch dabei kommt es nur darauf an bzw. zählt beim Fortschreiten von Element zu Element der abzuzählenden Menge, daß jeweils ein Element mehr erfaßt ist. Um welches Element es sich handelt, ist dabei völlig egal. Für die Anzahl der Elemente einer Menge hat das nichts zu besagen. Und genau diese "Einstellung" überträgt sich auch auf das abzählende Medium selbst, die Menge der natürlichen Zahlen also. Auch hier sieht man dann nicht auf die Elemente als solche, sondern –nur –darauf, daß  von Zeichenfolge zu Zeichenfolge wir in der Reihenfolge dieser Zeichenfolgen um genau diese eine Zeichenfolge weiterkommen. Und das wird dann – schon auch – folgerichtig als fortgesetzte Addition der Eins gelesen und verstanden.

Ihrer ganzen intelligiblen Realität und Identität nach läßt sich keine natürliche Zahl einfach nur auf eine Summe von Einsen reduzieren. Als Zahl kann eine solche Summe auch nur identifiziert werden, wenn festgestellt werden kann, wie viele Einsen darin additiv verknüpft sind. Das kann uns so eine Summe nicht selbst auch sagen; dazu muß abgezählt werden, und abgezählt werden kann nur mit Hilfe natürlicher Zahlen in Polynom-Darstellung, wenn uns damit auch mit einer konkret bezifferbaren, und d.h. sprachlich identifizierbaren Anzahl gedient sein soll. Zur Polynom-Darstellung natürlicher Zahlen gibt es dann einfach keine Alternative. Ein Existenzbeweis der Menge der natürlichen Zahlen, der von dieser Darstellung abstrahieren wollte, würde seiner Aufgabe nicht gerecht. Man sollte sich nicht mit weniger zufrieden geben, wenn man mehr haben kann. Man sollte sich insbesondere nicht mit weniger begnügen, wenn man in Theorie und Praxis „bedenkenlos“ auch immer von diesem „mehr“ Gebrauch macht.

 

III. - So wie in der Mathematik die natürlichen Zahlen begründet werden, könnte diese Mathematik nicht auch entwickelt werden. Gebrauch gemacht wird in der Mathematik von natürlichen Zahlen aber ausschließlich in Polynom-Darstellung. Das gilt – nach entsprechender Erweiterung des Systems von Darstellung – wie gesagt in gleicher Weise auch für ganze sowie auch für rationale Zahlen. Und das gilt letztendlich auch für die irrationalen Zahlen, von denen die letzte Lücke, die in diesem System von Darstellung noch gelassen ist, geschlossen wird. Allerdings wird diese Lücke nicht vom System selbst, und d. h. dem Verfahren zur Produktion beliebiger endlicher Zeichenfolgen aus vorzugebenden endlich vielen Zeichen geschlossen. Endliche Zeichenfolgen reichen einfach zur Darstellung irrationaler Zahlen nicht hin, und für unendliche Zeichenfolgen reicht dieses Verfahren nicht aus. Damit kann dieses Verfahren nicht – eigentlich – auch als Existenzbeweis für die Menge der irrationalen Zahlen dienen. Wir haben das Verfahren, das uns systematisch mit allen diesen Zeichenfolgen dienen könnte, nicht. Wo und wann immer wir Zugriff auf irrationale Zahlen haben sind es definierende Eigenschaften wie (Quadrat-)wurzeln, Logarithmen bzw. Folgen- oder Reihendarstellungen, die uns so eine irrationale Zahl rekursiv, aber – praktisch – immer auch nur approximativ rekonstruieren lassen.

Konkret-materiell zur Darstellung gebracht werden können auch alle endlichen Zeichenfolgen aus unserem Verfahren zur Darstellung der natürlichen Zahlen nicht. Es steht uns allerdings frei, gezielt jede einzelne dieser Zeichenfolgen auch im Detail anzuschreiben. Bei einer Menge, die ausschließlich aus unendlichen Zeichenfolgen besteht, bleibt uns auch das verwehrt. Es kann keine einzige solche Folgen auch vollständig angeschrieben werden. Es gibt – wie gesagt – auch dieses Verfahren nicht, dem man die Produktion aller solcher Folgen überlassen könnte. So ein Verfahren könnte nur in der Fortführung des Verfahrens zur Produktion aller endlichen Zeichenfolgen bestehen, und diese Fortführung gibt es gerade nicht. Dieses Verfahren produziert in seiner ganzen Unendlichkeit ausschließlich endliche Zeichenfolgen. Es gibt unendlich viele solcher Zeichenfolgen aber auch nur deswegen, weil dieses Verfahren eben keine unendlichen Zeichenfolgen produziert. Wie aber können dann solche Zeichenfolgen produziert sein? Und wie kann die Existenz der Menge der reellen Zahlen nachgewiesen werden? Was muß nachgewiesen werden, damit man sagen kann, die Menge der reellen Zahlen würde „existieren“?

Offenbar kann so eine Existenz nur dann als nachgewiesen gelten, wenn jede einzelne reelle Zahl auch mit einer konkreten Darstellung in Verbindung gebracht werden kann, so wie wir das bei den natürlichen Zahlen haben, auch wenn diese Darstellung in der Mathematik nicht eigentlich auch als Existenzbeweis anerkannt ist. Natürlich kann so eine Darstellung immer nur in einem bestimmten System von Darstellung auch eine gültige bzw. – mehr noch – eine mögliche Darstellung sein. Das gilt insbesondere für unendliche Mengen, die notwendig nach einem solchen System für Darstellung verlangen, nachdem diese Elemente dann vollständig nicht einfach – Element für Element – nach Belieben dargestellt werden können.

   Wir finden in der Literatur einen Existenzbeweis, der reelle Zahlen als Äquivalenzklassen rationaler Cauchy-Folgen versteht. Die Definition per Äquivalenzrelation ist für die Konstruktion von Zahlen nichts Ungewöhnliches. Es steht dieser Ansatz somit auch ganz in der Tradition des diskutierten Modells der Menge der natürlichen Zahlen, in dem natürliche Zahlen als Anzahlen definiert werden, die ihrerseits als Äquivalenzklassen bestimmt sind. Auch in der Definition ganzer[101] bzw. rationaler Zahlen kann man sich des Instrumentes der Äquivalenzrelation bedienen. Von einer praktischen Bedeutung ist diese Art der Definition allerdings nicht. Sie ist das auch nicht bezüglich der rationalen Zahlen, bei denen wir mit Äquivalenzklassen auch in allen ihrer einzelnen Elementen konfrontiert sind. Es wird dabei nur nicht auch nach Äquivalenzklassen unterschieden. In der Praxis wird in einer rationalen Zahl nicht einfach nur ein Vertreter einer Äquivalenzklasse gesehen. Jeder Bruch  steht dann einfach für die rationale Zahl  bzw. deren b-al-Bruchdarstellung. Das gilt insbesondere für teilerfremde Darstellungen, in denen man – jeweils – auch den natürlichen Repräsentanten der betreffenden Äquivalenzklasse sehen kann. Daß es unendlich viele Quotienten  mit , q ¹ 0 gibt, die nach den Regeln der Bruchrechnung ein und dieselbe rationale Zahl repräsentieren, wird dabei – stillschweigend – einfach zur Kenntnis genommen, ohne daß man deswegen auch auf die Vorzüge der verschiedenen Darstellungen ein und derselben rationalen Zahl durch verschiedenste Brüche verzichten wollte. Es wird jedes dieser Darstellungen nicht als Vertreter einer ganzen Äquivalenzklasse sondern als eigenständige rationale Zahl einfach angesehen. Erweiterungen eines Bruches ändern schließlich am Zahlenwert so eines Bruches nichts. Mathematisch ist das Äquivalenzklassendenken in Bezug auf die rationalen Zahlen bedeutungslos. Diese Äquivalenzklassen werden deswegen als solche auch nicht wahrgenommen.

 Es wird dabei also nicht nach Äquivalenzklassen unterschieden. Eine rationale Zahl ist – praktisch – einfach gegeben als Bruch .Was alle anderen Zahlbereiche anbelangt, so ist diese Form von Definition dagegen nur von einem theoretischen Interesse. Der Definition von Zahlbereichen per Äquivalenzrelation begegnen wir im konstruktiven – aber auch axiomatischen – Aufbau der Mathematik nur bei den rationalen Zahlen. Ansonsten ist das – wie wir dazu gesagt haben – Äquivalenzklassendenken in diesen Dingen nur eine mengentheoretische Erfindung ohne jede praktische Bedeutung. Das gilt auch für die beiden Existenzbeweise, die auf diese Art bezüglich der natürlichen wie auch der reellen Zahlen geführt werden. Was den praktischen Umgang mit natürlichen Zahlen betrifft, so ist deren Existenz auch nicht durch einen – konstruierten – Existenzbeweis, sondern einfach durch das System von Zeichenfolgen „markiert“, deren wir uns für gewöhnlich im Dezimalsystem der Darstellung dieser Zahlen bedienen. Es ist das Produktionsverfahren für diese unendlich vielen Zeichenfolgen – natürlich – zugleich auch der Beweis für die Existenz dieser Zeichenfolgen und mithin auch der natürlichen Zahlen, die in diesen Zeichenfolgen ihre – vollkommen unumstrittene Darstellung finden.

In dieser bequemen Lage sind wir allerdings – wie gesagt – nicht, wenn es um den Umgang mit irrationalen Zahlen geht. Mit diesen Zahlen kann nicht einfach – so wie mit natürlichen Zahlen – vermittels der solche Zahlen darstellenden Zeichenfolgen umgegangen werden. Irrationale Zahlen verstehen sich in der Bruchkomponente ihrer b-al-Bruchdarstellung als nicht-periodisch unendliche Zeichenfolgen. Das Verfahren zur Produktion der die natürlichen Zahlen darstellenden Zeichenfolgen bedient uns jedenfalls mit keinen solchen unendlichen Zeichenfolgen, auch wenn es – in der  Grenzwertmenge  bzw. im Grenzübergangsverfahren  – an alle diese unendlich vielen unendlichen Zeichenfolgen heranreicht. Der – endlichen – Länge der Zeichenfolgen dieses Verfahrens ist schließlich keine Grenze gesetzt.

Unendliche Zeichenfolgen entziehen sich aber auch so notwendig – im einzelnen ebenso wie in ihrer Gesamtheit – einer vollständigen expliziten materiellen Darstellung. Daß durch so eine unendliche nicht-periodische Zeichenfolge auch eine reelle Zahl dargestellt ist, muß man sich im übrigen auch erst durch das Vollständigkeitsaxiom bestätigen lassen. Nicht beantwortet sind damit aber auch schon unsere bezüglich solcher Folgen aufgeworfenen Fragen.

Wir hatten uns gefragt, was man sich unter solchen Folgen vorstellen kann, wie sie uns gegeben sein können, und inwieweit sich diese auch mit einer Zahl identifizieren lassen. Abstrakt-formal könnte man reelle Zahlen einfach als Grenzwerte rationaler Cauchy-Folgen bestimmt sein lassen. Von Darstellungsfragen kann dann – vorerst zumindest – abgesehen werden. Motiviert ist dieser Ansatz – wie gesehen – von der Eigenschaft einer jeden reellen Zahl als Häufungspunkt rationaler Zahlen Limes einer Folge rationaler Zahlen zu sein. Es folgt dies einfach daraus, daß  in  „dicht“ liegt, und d.h., daß zwischen je zwei reellen Zahlen immer auch noch rationale Zahlen liegen. Zurückzuführen ist diese Eigenschaft – wie wir wissen – auf den Satz des Archimedes, wonach es zu jeder reellen Zahl a eine natürliche Zahl n gibt, so daß n > b ist. Dieser Satz ist im übrigen äquivalent mit der Eigenschaft der Menge  der natürlichen Zahlen, in R nach oben nicht beschränkt zu sein.[102]

 

IV. -  liegt nicht nur dicht in ;  ist auch von einer nicht weniger dichten „Lückenhaftigkeit“ in : Zwischen je zwei rationalen Zahlen liegen immer auch noch irrationale Zahlen. Auch diese Zahlen liegen also dicht in . Jede dieser irrationalen Zahlen ist – wie gesagt – Grenzwert einer Folge rationaler Zahlen. Als konvergente Folgen sind diese Folgen auch alle Cauchy-Folgen. Konvergent sind diese Folgen in ; Cauchy-Folgen sind sie allerdings – auch – in . Wenn man also die Menge der reellen Zahlen konstruktiv aus der Menge der rationalen Zahlen heraus begründen will, dann läßt sich das nur über rationale Cauchy-Folgen einrichten. Man kann dann natürlich nicht mit in  konvergenten rationalen Folgen argumentieren. Natürlich führt es auch nicht weiter, mit in  konvergenten Folgen zu argumentieren. Nur die in  nicht-konvergenten Cauchy-Folgen führen aus der Menge der rationalen Zahlen dann heraus, wenn wir die Konvergenz dieser Folgen in einer  erweiternden Menge  fordern. Kann auf diese Weise aber auch alles an reellen Zahlen erfaßt sein, was wir an reellen Zahlen erfaßt haben wollen bzw. was es an reellen Zahlen gibt?

In  – das wissen wir – konvergiert nicht jede Cauchy-Folge. Deswegen auch ist  keine rationale Zahl. Läßt man in einer Erweiterungsmenge von  alle rationalen Cauchy-Folgen konvergieren, dann wird zwar aus  keine rationale Zahl; es ist immerhin aber sichergestellt, daß  als „Zahl“ Element der Erweiterungsmenge ist. Durch die Eigenschaft, die diese Zahl definitionsgemäß erfüllt, ist eine rationale Cauchy-Folge in Form und Gestalt eines unendlichen nicht-periodischen b-al-Bruches definiert. Wir können diese Zahl dann einfach als Grenzwert dieser Folge „ansetzen“. Wird so mit jeder rationalen Cauchy-Folge verfahren, dann läßt sich von der dadurch begründeten Erweiterungsmenge sagen, daß in ihr jede rationale Cauchy-Folge konvergiert. Konvergiert deswegen in dieser Erweiterungsmenge aber auch jede beliebige – und d.h. nicht notwendig auch rationale – Cauchy-Folge? Kann es sein, daß Cauchy-Folgen, die sich – zum Teil zumindest – auch aus Elementen, um die die Menge der rationalen Zahlen erweitert wurde, zusammensetzen, und d.h. die auch Grenzwerte von in  divergenten rationalen Cauchy-Folgen zu Folgengliedern haben, in dieser Erweiterungs-menge nicht konvergieren? Läßt sich so etwas dadurch ausschließen, daß man zeigt, daß in dieser Erweiterungsmenge die Lücken von  in  vollständig geschlossen sind? Und wie läßt sich zeigen, daß diese Lücken vollständig geschlossen sind?

Es geht bei diesem Verfahren nicht um die – axiomatische – Begründung der Menge der reellen Zahlen. Diese Begründung dürfen wir als vollzogen annehmen; es geht in diesem Verfahren darum zu zeigen, daß es diese reellen Zahlen auch „gibt“. Dabei hat man sich aller Argumente zu enthalten, die – in welcher Form auch immer – diese Zahlen bereits als gegeben voraussetzen. Daß die Menge der rationalen Zahlen dicht in der Menge der reellen Zahlen liegt, das man kann natürlich nur wissen, wenn uns die reellen Zahlen bereits zur Verfügung stehen. Lücken lassen sich nicht einfach einseitig feststellen. Die Lücken von  in R sind nicht Lücken von  bzw. von  allein; es sind dies die Lücken der Teilmenge Q von  in  bezogen auf die lineare Ordnung von . In der Menge  für sich genommen kann es – genausowenig wie in jeder anderen Menge auch – Lücken geben. Jede Menge ist als Menge insofern immer auch eine vollständige Menge. Insbesondere gilt das aber für Mengen, denen – so wie der Menge der rationalen Zahlen – eine einheitliche Konstruktionsvorschrift zugrunde liegt. Lückenhaft kann eine solche Menge nur bezüglich einer Ordnung sein, der diese Menge zugehört, die von dieser Menge aber nicht auch vollständig ausgefüllt ist.

Diese Situation liegt dann vor, wenn in dieser Ordnung auch noch für Elemente Platz ist, die dieser einen Menge nicht angehören. In der linearen Ordnung der rationalen Zahlen, und d. h. im – eigens dafür – erweiterten System der Darstellung der natürlichen Zahlen, haben wir diese Situation auch vorliegen. Es läßt sich zeigen, daß es zwischen je zwei rationalen Zahlen immer auch noch nicht-rationale Zahlen gibt. Der Beweis dieser Behauptung enthält ein allgemeines Verfahren, das uns eine solche Zahl immer auch ganz konkret bestimmen läßt.[103] Gebrauch gemacht wird dabei neben dem Satz des Archimedes von der Irrationalität von . Einmal mehr dient uns diese Zahl dabei als Paradebeispiel für eine nicht-rationale Zahl. Gebrauch gemacht wird dabei auch von einer Abschätzung, die uns zeigt, daß die Quadratwurzel aus ½ – echt – zwischen Null und Eins liegt: .

Es gibt also in der linearen Ordnung der rationalen Zahlen zwischen je zwei rationalen Zahlen immer auch noch irrationale Zahlen. Das gilt aber auch umgekehrt. Allgemein gilt, daß zwischen je zwei verschiedenen reellen Zahlen sowohl rationale als auch irrationale Zahlen liegen. Das Konstruktionsverfahren, das uns zu je zwei verschiedenen rationalen Zahlen a, b,  a < b, eine irrationale Zahl r mit  b bestimmen läßt, kann auch mit irrationalen Zahlen aufgenommen werden. Voraussetzung dafür ist, daß von der Menge der reellen Zahlen als einer gegebenen Menge ausgegangen werden kann. Das ist eine Voraussetzung, von der wir in der konstruktiven Entfaltung der reellen Zahlen aus der Menge der rationalen Zahlen heraus aber gerade keinen Gebrauch machen können. Verwertbar ist diesbezüglich nur derjenige Teil des Verfahrens, der uns zeigt, daß zwischen rationalen Zahlen immer auch noch nicht-rationale Zahlen liegen. Eine solche Erkenntnis kann man in die „Konstruktion“ der Menge der reellen Zahlen einbringen.

Der allgemeinen und systematischen Entwicklung der Analysis ist eine solche Zurückhaltung jedoch fremd. Diese Entwicklung setzt allgemein die Menge der reellen Zahlen als gegeben voraus. Alles, was man zu diesen Zahlen glaubt sagen zu müssen, ist dann in dem Axiomensystem für diese Zahlen gesagt. Ein Existenz- und Eindeutigkeitsbeweis der Menge der reellen Zahlen für die auf diese Weise begründete Menge gehört nicht zum Pflicht- oder auch nur Standardprogramm von Analysis 1-Lehrbüchern. Nicht in jedem Lehrbuch wird dazu auch etwas gesagt. Würde sich dazu – substantiell – auch nichts sagen lassen, die ganze Mathematik wäre vollständig auf Sand gebaut. Ein Existenz- bzw. Eindeutigkeitsbeweis der Menge der reellen Zahlen ist für die Mathematik von einer existentiellen Bedeutung. Solange diese Zahlen in ihrer Existenz nicht auch nachgewiesen sind, ist alles, was daraus an „Erkenntnissen“ abgeleitet wird, rein hypothetischer Natur.

Die reellen Zahlen gehen in diese „Erkenntnisse“ dann nur als Prämisse ein, die zutreffen kann oder auch nicht. Unter rein logischen Aspekten kann man natürlich immer so tun, als ob die Prämisse zuträfe. Unter der Prämisse, daß die Prämisse eine zutreffende Prämisse ist, läßt sich dann der Schluß von dieser Prämisse zur Konklusion unter allein formal-logischen Aspekten beurteilen. „Die formale Logik ist die Theorie der formal gültigen Schlüsse“.[104] Formal gültig heißt dabei ein Schluß dann, wenn er gültig ist unabhängig davon, ob der in Prämisse und Konklusion formulierte Sachverhalt zutrifft oder nicht. Unter der Hypothese der strittigen Existenz der Menge der reellen Zahlen wäre die ganze Mathematik somit auf einen Zweig der formalen Logik reduziert. Tatsächlich auch ist die Gültigkeit mathematischer Beweise unabhängig davon, ob es die reellen Zahlen gibt oder nicht. Unabhängig ist die Mathematik allerdings nicht von dem Verfahren zur Produktion resp. Darstellung der natürlichen Zahlen. Ohne dieses Verfahren gäbe es keine Mathematik. Die ganze Mathematik leitet sich von diesem Verfahren ab.



[98] Diese Eigenschaft ist auch Teil des auf Seite 221formulierten Axiomensystems der natürlichen Zahlen

[99] Ein Beweis des Induktionsprinzips mit Hilfe der Wohlordnungseigenschaft findet sich in S. Lang, Analysis I, S. 8. In umgekehrter Richtung wird dieser Beweis in H. Kütting, Einführung in Grundbegriffe der Analysis Bd. 1, S. 111 geführt.

[100] vgl. dazu H. Meschkowski, Zahlen, Mannheim 1970, S. 30 ff.

[101] Zur Definition ganzer Zahlen als Äquivalenzklassen siehe H. Meschkowski, Zahlen, S. 51 ff.

[102] Siehe dazu H.-J. Reiffen/H.W. Trapp, Analysis I, die Sätze 11.10 und 11.11 auf S. 98

[103] Siehe dazu H.-J. Reiffen, H.W. Trapp, Einführung in die Analysis I, Satz 11.14 auf S. 99f.

[104] F. von Kutschera – Breitkopf, Einführung in die formale Logik, S. 11