2.3.4 Die Unvollständigkeit der Menge der rationalen Zahlen

 

I. - Abbildungen, denen eine – explizite – Abbildungsvorschrift zugrunde liegt, bilden – wie wir wissen – in der Weise ab, daß sie den Bildpunkt vermittels dieser Abbildungsvorschrift in Abhängigkeit vom jeweiligen abzubildenden Punkt berechnen. Die einzelnen Punkte des Definitionsbereiches der Abbildung werden den in der Abbildungsvorschrift allgemein beschriebenen Operationen unterzogen und finden im Ergebnis dieser Operationen dann auch ihren Bildpunkt. Das gilt für Abbildungen allgemein, und es gilt dies damit insbesondere auch für Abbildungen, die die Menge der natürlichen Zahlen zum Definitionsbereich haben. Abbildungen dieser Art heißen definitionsgemäß Folgen. Zugleich ist mit so einer Abbildung auch die Bedingung beschrieben, die vorliegen muß, damit eine Menge abzählbar genannt werden kann. Eine nicht leeren unendliche Menge M heißt definitionsgemäß also abzählbar, wenn es eine bijektive Abbildung von N auf M gibt. In der Literatur wird gelegentlich von der abzählenden Abbildung nur verlangt, daß sie surjektiv ist. Das würde bedeuten, daß auf einzelne Elemente der Menge M möglicherweise öfter abgebildet wird.

Abzählbar im Sinne auch der strengeren Definition von bijektiver Abzählbarkeit wäre der Bildbereich einer jeden Folge deswegen gleichwohl. Es müßte dazu nur eine Abbildung konstruiert werden, die alle bereits einmal erfaßten Bildpunkte ausläßt, was bei der Reihenfolge, in der alle diese Bildpunkte auch durch eine bloße surjektive Abbildung in jedem Fall gebracht sind, immer auch möglich ist. Dafür gibt es ein einfaches rekursives Verfahren, so wie es auch beim Beweis des Satzes, daß eine Teilmenge einer abzählbaren Menge auch wieder abzählbar ist – und dieser Sachverhalt liegt unserer Situation auch zugrunde – Anwendung findet. Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein spezifisch konstruktives Verfahren, so wie wir es in mathematischen Dingen schon immer auch erwarten. Immer erst sehen zu müssen, was als nächstes zu tun ist, darauf kann man eine Maschine gut programmieren, ein "Selbstläufer" engeren und eigentlichen mathematischen Sinne ist so etwas nicht. Das hat einfach nichts mit Abbildung zu tun, und Mathematik ist nun einmal Abbildungstheorie. 

Materiell gleiche Glieder einer Folge – wie diese immer auch aussehen mögen – unterscheiden sich in jedem Fall durch ihre Position, die sie in der Folge einnehmen. Es ist dies allerdings kein Unterschied, der in Abzählbarkeitsfragen relevant sein könnte. In diesen Fragen kommt es nur auf die materielle und individuelle Identität eines jeden Elementes der abzuzählenden Menge an, unabhängig von irgendwelchen positionellen Unterschieden aufgrund bestimmter Anordnungen dieser Menge, auch wenn sich diese Menge als abzählbar nur dann erweisen kann, wenn es auch gelingt, diese Menge in der besonderen Form einer Reihenfolge, in der jedes Element dieser Menge dann auch eine ganz bestimmte Position einnimmt, anzuordnen. Das geschieht auf regulärem Wege – wie gesagt – dadurch, daß alle Elemente dieser Menge in Abhängigkeit von den natürlichen Zahlen und in der Reihenfolge dieser natürlichen Zahlen Element für Element rekonstruiert und reproduziert werden. Daß dabei ein Element möglicherweise mehrfach Berücksichtigung findet, wird man a priori nicht immer auch ausschließen können. Es ist so etwas aber auch nicht – wie gesehen – geeignet, die Abzählbarkeit einer Menge in Frage zu stellen. Jedenfalls wird das in der Literatur auch so gesehen. Würde man das mit der numerischen Äquivalenz zur Menge der natürlichen Zahlen ganz genau nehmen, dann dürften Mengen dieses Typs auch nicht mehr als abzählbar gelten. Wir dürften es bei Mengen dieses Typs allerdings mit einem konstruktiven Fall zu tun haben, wenn man einmal von den – positiven – rationalen Zahlen absieht, die über das kartesische Produkt  in allen – unendlich vielen – Repräsentanten einer jeden Äquivalenzklasse "rationale Zahl" erfaßt werden. Einmal mehr ist aber zu sagen, daß daß man in diesen Dingen einfach nicht genug denkt und tut. Wir begegnen hier einfach einer Gemengelage von mathematischer Präzision und "naiver" Intuition. Natürlich stören – letzterem zufolge – "Mehrfacherwähnungen" in Abzählbarkeits- fragen nicht.

Eine Menge per Abbildungsvorschrift abzählen heißt also diese Menge dadurch in allen ihren Elementen zu rekonstruieren, daß man jede natürliche Zahl den in dieser Abbildungsvorschrift allgemein vorgegebenen Operationen unterzieht. Das Konstruktionsverfahren für jedes Element der abzuzählenden Menge ist insoweit für alle diese Elemente dasselbe. In diesem Falle könnte natürlich auch behauptet werden, daß es für diese abzuzählende Menge auch ein allgemeines Konstruktionsverfahren gibt. Die Frage ist, inwieweit das auch umgekehrt gilt, und d.h. inwieweit die Existenz so eines Konstruktionsverfahrens notwendig auch die Abzählbarkeit nach sich zieht bzw. inwieweit umgekehrt die Nicht-Existenz eines solchen Konstruktionsverfahrens notwendig Abzählbarkeit ausschließt. Mengen können natürlich auch auf anderem Wege konstruiert werden als durch eine Abbildungsvorschrift mit der Menge der natürlichen Zahlen als Definitionsbereich und der zu konstruierenden Menge als Bildbereich. In diesem Fall könnte so eine Konstruktion ohnehin nur den Charakter einer Rekonstruktion annehmen, nachdem nur in Mengen (hinein) abgebildet werden kann, die – auf welche Art und Weise auch immer – bereits gegeben sind.

Mengen können insofern in ursprünglicher Weise nicht durch Abbildungen begründet sein.  Die Frage der Abzählbarkeit einer Menge kann sich natürlicherweise nur bezüglich Mengen stellen, die bereits vorliegen. Dann erst kann nach einer Abbildung gesucht werden, die die Menge der natürlichen Zahlen bijektiv oder auch nur surrjektiv auf die abzuzählende Menge abbildet. Die Frage wäre damit die, wie wir zu solchen Mengen finden, auf die abgebildet werden kann. Diese Frage betrifft natürlich auch die Menge der natürlichen Zahlen selbst.

Lassen wir aber die natürlichen Zahlen einmal beiseite, und fragen wir uns, wie das diesbezüglich mit der Menge der ganzen bzw. rationalen Zahlen ist. In diesen beiden Fällen gibt es – wie wir wissen – eine Konstruktionsvorschrift, die uns sagt, wie man von den natürlichen zu den ganzen Zahlen und von diesen ganzen Zahlen wiederum zu den rationalen Zahlen kommt, und zwar kommt nicht im Sinne von etwas bereits Gegebenem, sondern im Sinne von etwas, das man sich erst gibt, auch wenn man sich dieses nicht geben könnte, wenn es nicht auch schon immer gegeben wäre. Man kann die Menge der ganzen Zahlen wie auch die Menge der rationalen Zahlen – genauso wenig wie die Menge der natürlichen Zahlen – nicht einfach nur für eine Erfindung des menschlichen Verstandes halten. Wir haben es in allen diesen Fällen mit unendlichen Mengen zu tun, und Unendliches kann man sich in keinem Fall selbst geben, man kann es sich immer nur geben lassen. Unendliches bleibt in seiner Unendlichkeit der Verfügung menschlichen Verstandes bzw. dem Zugriff menschlichen Handelns entzogen.

Wie man also von den natürlichen zu den ganzen und von diesen wiederum zu den rationalen Zahlen kommt, das wissen wir. In einem Fall werden die natürlichen Zahlen einfach mit einem Minuszeichen versehen, und im anderen Fall werden einfach „Brüche“ bzw. geordnete Paare ganzer Zahlen gebildet. In beiden Fällen haben wir eine eindeutige und einheitliche Konstruktionsvorschrift vorliegen, die uns die Menge der ganzen bzw. rationalen Zahlen einfach als diejenige Menge begreifen läßt, die man bekommt, wenn man die Menge der natürlichen bzw. die Menge der ganzen Zahlen in allen ihren Elementen der jeweiligen Konstruktionsvorschrift unterzieht. Die Produktion der negativen ganzen Zahlen – bekanntlich gehören der Menge der ganzen Zahlen auch die natürlichen Zahlen als Teilmenge an – könnte man sich dabei auch noch ganz gut als Abbildung, die jeder natürlichen Zahl n ihr „Negatives“  zuordnet, vollzogen denken. Allerdings hätte dazu diese Menge der negativen ganzen Zahlen bereits vorzuliegen.

Man kann Abbildungen nun einmal nicht ihren eigenen Bildbereich produzieren lassen. Abbildungen können nicht definiert werden, wenn keine Menge zur Verfügung steht, die einer Abbildung auch als Bildbereich dienen kann. Andernfalls wäre eine Abbildung einfach nicht definiert. Wenn beispielsweise Subtraktion und Division in der Menge der natürlichen Zahlen nur beschränkt ausführbar sind, so deswegen, weil – so wie diese Operationen auf dieser Menge allgemein definiert sind – es in dieser Menge nicht immer auch das entsprechende Bildmaterial gibt, das uns in jedem Fall Subtraktion und Division auch ausführen ließe. Man kann dann Subtraktion und Division auch nicht einfach dieses benötigte Zahlenmaterial suchen lassen, damit Subtraktion und Division natürlicher Zahlen immer auch möglich ist. Man kann dieses Zahlenmaterial vielmehr nur abstrakt-formal einführen, um daraufhin zu erklären, wie mit dessen Hilfe Subtraktion und Division auch in den Fällen erklärt sein sollen, in denen sie „natürlicherweise“ nicht erklärt sind. Verknüpfungen wie Subtraktion oder Division setzen die Menge, in der sie definiert sind, genauso voraus, wie sich auch Abbildungen nur auf einem vorgegebenen Definitions- bzw. Bildbereich einrichten lassen, und dann möglicherweise in einzelnen Punkten des Definitionsbereiches auch nicht definiert sind.

Man kann Verknüpfungen ebenso wenig wie Abbildungen sich ihren Definitions- bzw. Bildbereich selbst suchen bzw. bestimmen lassen. Deswegen scheidet eine Konstruktion der Menge der ganzen Zahlen per Abbildung ebenso aus, wie eine Bildung der rationalen Zahlen per Verknüpfung. Es steht uns allerdings frei – abstrakt-formal – die Menge der natürlichen Zahlen um die Menge aller „negativen natürlichen Zahlen“ bzw. die Menge der ganzen Zahlen um die Menge aller geordneten Paare solcher Zahlen zu erweitern, wobei jede ganze Zahl p als geordnetes Paar  in dieser Menge geordneter Paare enthalten sein möge, so daß diese Menge auch wirklich als Erweiterungsmenge der Menge der ganzen Zahlen verstanden werden kann. Das, was eine Erweiterung erfährt, darf natürlich dann selbst nicht außerhalb dieser Erweiterung liegen. Erweiterung ist insofern immer auch mit Ergänzung gleichzusetzen.

 

II. - Wir haben uns die Frage gestellt, inwieweit eine einheitliche und einzige Konstruktionsvorschrift für eine solche Erweiterung notwendig auch die Abzählbarkeit der Erweiterungsmenge nach sich zieht. Was die ganzen Zahlen anbelangt ist diese Frage  uneingeschränkt zu bejahen. Es gibt eine Abbildungsvorschrift, die die Menge der natürlichen Zahlen bijektiv auf die Menge der ganzen Zahlen abbildet.[64] Es ist klar, in welche Reihenfolge die ganzen Zahlen dabei gebracht werden. Die Menge der ganzen Zahlen wird natürlicherweise so abgezählt, daß jeder natürlichen Zahl die dieser natürlicherweise zugeordnete negative ganze Zahl zur Seite gestellt wird, bevor dann ganz „regulär“ zur nächsten natürlichen Zahl und der dieser wiederum korrespondierenden negativen ganzen Zahl übergegangen wird. Abgebildet wird dabei also in der Reihenfolge

Das ist auch eine Form von Diagonalverfahren, das dabei praktiziert wird. Wir dürfen uns dazu einfach die Menge der natürlichen Zahlen und die Menge der negativen ganzen Zahlen auf zwei parallel und linksbündig geführten Halbgeraden veranschaulicht denken. Jede natürliche Zahl auf der einen Halbgeraden kommt dabei genau gegenüber der dieser Zahl korrespondierenden negativen ganzen Zahl auf der anderen Halbgeraden zu liegen. Der Streckenzug, der die Menge der ganzen Zahlen in der beschriebenen Weise abzählt, zerlegt dann das durch die beiden Halbgeraden gebildete nach rechts offene „Rechteck“ in eine unendliche Menge kongruenter Dreiecke. Natürliche Zahlen und ihr negatives Äquivalent erfahren dabei eine senkrechte, negative Zahlen und die ihnen in diesem Verfahren folgende natürliche Zahl dagegen eine diagonale Verbindung. Die geometrische Situation ist insofern völlig eindeutig und einsichtig. Dieses geometrische Bild sollte und darf in diesem Fall wie auch in anderen Fällen aber auch nur ausschließlich der Veranschaulichung dienen:

Wir können in diesem Fall – wie gesagt – auch mit einer Abbildung dienen, die uns jede ganze Zahl mit genau einer natürlichen Zahl identifizieren läßt. Das ist etwas, womit uns kein geometrisches Verfahren dienen kann. Wir haben den Streckenzug und wissen, daß sich die Menge der ganzen Zahlen auf diese Weise auch in eine Reihenfolge bringen läßt. Damit kann – diesem Streckenzug folgend – auch abgezählt werden, soweit abgezählt werden möchte. In dem vorliegenden Fall nehmen uns die natürlichen Zahlen, die sich –  natürlicherweise – selbst abzählen, die Arbeit – weitgehend – noch ab. Die natürlichen Zahlen werden dabei einfach „paritätisch“ auf beide gleichmächtigen Mengen positiver bzw. negativer ganzer Zahlen verteilt, so daß man sich jeder geraden natürlichen Zahl 2k die negative Zahl  bzw. jeder ungeraden natürlichen Zahl  die natürliche Zahl k zugeordnet denken kann, wenn man die Null auf sich selbst bezogen sein läßt, und d. h. wenn man dei Null in das Abbildungsgeschehen einbezieht, will heißen mit der um Null erweiterten Menge der natürlichen Zahlen rechnet.  Dadurch wäre im übrigen – auch – eine (weitere) bijektive Abbildung von der – um die Null erweiterten – Menge der natürlichen Zahlen auf die Menge der ganzen Zahlen definiert. Bei der vorhin erwähnten förmlichen bijektiven Abbildung von  auf  haben wir das auch (so). Dort ist die Abbildung auch aus einem Guß.in dem vorliegenden Fall haben wir dagegen so etwas wie eine abschnittsweise Definition.

Daß Abbildungen bzw. Funktionen nicht einheitlich für den ganzen Definitionsbereich definiert sind, ist etwas, was in der Analysis gelegentlich schon vorkommt, und was im übrigen auch die allgemeine Definition von Abbildung jedenfalls nicht ausschließt. Wem das nicht gefällt, dem kann in diesem Fall, wie gezeigt, aber auch mit einer einheitlichen Abbildungsvorschrift gedient werden. Natürlich ist diese Abbildungsvorschrift dann komplexer organisiert als die für die geraden und ungeraden Zahlen getrennte formulierten „Teilabbildung- en“. Es muß in dieser Abbildung dann ein Mechanismus verankert sein, der jede natürliche Zahl – unterschieden allerdings durch das in steter Regelmäßigkeit wechselnde Vorzeichen – zweimal auf dieselbe natürliche Zahl abbildet, und sich dabei auch noch an die Reihenfolge dieser Zahlen hält, wenn die abzubildenden natürlichen Zahlen ebenfalls dieser Reihenfolge folgen. Das läßt sich alles also in eine Abbildungsvorschrift verpacken, und im Vergleich zu dem, was von dieser Vorschrift geleistet wird, nimmt sich diese Abbildung doch auch noch recht bescheiden aus. Man kann aber auch nicht sagen, daß sich diese Abbildungsvorschrift – so wie bei den beiden Teilabbildungen zuvor – einfach der Konstruktion der Menge der ganzen Zahlen bzw. der daraus abgeleiteten Vorstellung ihrer Abzählbarkeit entnehmen ließe. Das kann man so nicht sagen. Das ist auch nicht unsere Frage. Die Frage ist nicht die, wie komplex bzw. weniger komplex so eine Abbildungsvorschrift ist; die Frage ist vielmehr die, ob es so eine Abbildungsvorschrift auch immer für Mengen gibt, die aufgrund eines einheitlichen Konstruktionsverfahrens aus einer abzählbaren Menge hervorgehen. Wäre diese Frage allgemein mit ja zu beantworten, dann wäre die Menge der ganzen Zahlen genauso wie die Menge der rationalen Zahlen, nicht aber auch die Menge der reellen Zahlen a priori als eine abzählbare Menge ausgewiesen. Und das würde so auch – der herrschenden Lehre jedenfalls zufolge – auch den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen. Sowohl die ganzen Zahlen als auch die rationalen Zahlen gehen aus den natürlichen bzw. aus den ganzen Zahlen durch eine einheitliche Konstruktionsvorschrift hervor. Gleiches gilt dagegen nicht auch für die reellen Zahlen in Bezug auf die rationalen Zahlen.

Wir haben diese Konstruktionsvorschrift im übrigen aber auch wieder beim Übergang von den reellen zu den komplexen Zahlen. Es ist dies die gleiche Konstruktionsvorschrift, wie wir sie bei der Erweiterung der Menge der ganzen Zahlen zur Menge der rationalen Zahlen haben. In beiden Fällen erfolgt die Erweiterung dadurch, daß man zur Menge aller geordneten Paare von Elementen der Ausgangsmenge übergeht.[65] Wäre die Menge der reellen Zahlen eine abzählbare Menge, könnte gleiches sofort auch von den komplexen Zahlen behauptet werden, wenn man einmal von den Schwierigkeiten absieht, die sich in solchen Fällen – wir haben das bei den rationalen Zahlen gesehen – für die Konstruktion einer expliziten und bijektiven Abbildungs- vorschrift ergeben.

 

III. Die allgemeine Konstruktionsvorschrift, die uns die Menge der reellen Zahl als Produkt der Anwendung dieser Konstruktionsvorschrift auf die Menge der rationalen Zahlen verstehen ließe, gibt es nicht.  Die Begründung, die die reellen Zahlen erfahren, ist eine andere. Lediglich das Motiv, das uns nach anderen Zahlen noch als den rationalen Zahlen suchen läßt ist dasselbe, das uns bereits nach einer Erweiterung der Menge der natürlichen bzw. der Menge der ganzen Zahlen hat suchen lassen, das Motiv nämlich, bestimmte Operationen auch unbeschränkt ausführen zu können. Was die in der Menge der natürlichen Zahlen immer nur beschränkt ausführbare Subtraktion bzw. Division betrifft, so ist dieses Problem mit der Einführung negativer ganzer Zahlen resp. rationaler Zahlen gelöst. Was im Körper der rationalen Zahlen immer noch nicht möglich ist, das ist das Ziehen der Quadratwurzel aus allen positiven rationalen Zahlen. Man kann dieses Problem auch nicht dadurch gelöst haben wollen, daß man die Menge der rationalen Zahlen einfach – formal – um die Menge der Quadratwurzeln positiver rationaler Zahlen ergänzt, so  wie die Menge der ganzen Zahlen um alle Quotienten aus solchen Zahlen ergänzt wurde, um im Körper  aller dieser Quotienten auch unbeschränkt dividieren zu können.

Diese  – ideale – formale Lösung war dort auch nur möglich bzw. – besser – ergab dort auch nur Sinn, weil wir für dieses Problem nicht nur auch eine – materielle – reale Lösung haben, sondern weil dieser Körper der Brüche – und anders könnte die Menge dieser Brüche auch kein Körper sein – bezüglich dieser Quotientenbildung auch abgeschlossen ist. Das heißt, daß sowohl der formale Bruch zweier solcher formaler Brüche auch wieder einem solchen formalen Bruch gleich ist, als auch daß die effektive Auflösung und d.h. Division eines konkreten Bruches solcher konkreter Brüche nicht aus der Menge endlicher bzw. unendlich-periodischer b-al-Brüche, in der alle solchen konkreten (Einzel-)brüche ihre Auflösung erfahren, hinausführt. Wo sollte sie anders aber auch hinführen. Natürlich muß sich die Menge, die erweitert wird, in der Erweiterungsmenge auch als – natürliche – Teilmenge wiederfinden. Bei der Erweiterung der Menge der ganzen Zahlen zum Körper der rationalen Zahlen war das kein Problem, weil sich jede ganze Zahl p bequem auch als Bruch  schreiben läßt. Gebrauch gemacht ist dabei einfach von einer Eigenschaft der Zahl 1 wie sie uns bereits aus dem Umgang mit natürlichen Zahlen vertraut ist, daß Division durch 1 eine Zahl nämlich unverändert läßt.

Was diese Teilmengen-Eigenschaft betrifft, so wird dieser Eigenschaft von der Menge der rationalen Zahlen, bezogen auf die um alle ihre Quadratwurzeln erweiterten Menge dieser Zahlen sicherlich Genüge getan. Jede rationale Zahl läßt sich einfach als Quadratwurzel aus ihrem Quadrat darstellen. Wie sieht es aber mit der Abgeschlossenheit dieser Erweiterungsmenge bezüglich der Operation des „Ziehens der Quadratwurzel“ aus? Abgeschlossen bezüglich dieser Operation wäre diese Erweiterungmenge nur dann, wenn das Ziehen der Quadratwurzel aus einer Quadratwurzel dieser Erweiterungsmenge wieder ein Element, und d.h. eine Quadratwurzel dieser Erweiterungsmenge zum Ergebnis hätte. Das trifft allgemein so mit den positiven rationalen Zahlen und ihren Quadratwurzeln nicht zu. Die Quadratwurzel aus der Quadratwurzel einer positiven rationalen Zahl ist im allgemeinen weder eine rationale Zahl noch läßt sie sich im allgemeinen als „einfache“ Quadratwurzel einer rationalen Zahl darstellen. Damit kann die Erweiterung des Körper der rationalen Zahlen zu einem Körper, in dem auch unbeschränkt Quadratwurzeln gezogen werden können, in dieser einfachen konstruktiven Weise nicht stattfinden.

Die Quadratwurzel aus einer positiven – rationalen – Zahl r ist – formal – definiert als diejenige „Zahl“ s, die mit sich selbst multipliziert diese Zahl r ergibt: . Diese Definition beantwortet natürlich nicht die Frage, ob es zu jeder positiven rationalen Zahl r auch ein solches s gibt, und wie dieses s gegebenenfalls aussieht, und d.h., ob dieses s auch rational ist und wenn nicht, was es sonst noch sein könnte. Es sind dies alles allerdings Fragen, die sich so auch nur bei einem konstruktiven Aufbau des „Zahlensystems“, an dessen Ende dann der Körper der reellen Zahlen steht, stellen. Bei einer axiomatischen Begründung dieses Körpers der reellen Zahlen dagegen ist für solche Fragen kein Platz, weil dort – originär – nicht zwischen natürlichen, ganzen, rationalen und irrationalen Zahlen unterschieden wird.

Für die Entwicklung der Analysis ist diese Unterscheidung ohne eine essentielle Bedeutung. Wenn man weiß, daß es zu jeder positiven reellen Zahl die Quadratwurzel gibt, dann muß man sich nicht dafür interessieren, ob positive rationale Zahlen immer auch eine rationale Quadratwurzel haben. Natürlich haben rationale Zahlen das im allgemeinen nicht. Hätten rationale Zahlen das, müßte man sich fragen, wofür reelle Zahlen – noch – gut sein könnten. Man müßte sich – mehr noch – fragen, was man sich unter solchen Zahlen auch noch vorstellen könnte. Schließlich wäre der Körper der rationalen Zahlen dann auch gegenüber der Operation „Ziehen der Quadratwurzel“ abgeschlossen. Die Frage wäre dann einfach die, was man in diesem Körper der rationalen Zahlen noch tun möchte, darin aber nicht tun kann. Man sollte dabei auch sehen, daß in der allgemeinen Entwicklung der Analysis, so wie wir sie in den entsprechenden Lehrbüchern vorfinden, auf konkretes Zahlenmaterial so gut wie nicht zurückgegriffen wird. In diesem Sinne ist die Entwicklung der Analysis auch ganz formal. Man möchte meinen, es wäre vollkommen unwichtig, ob es so etwas wie reelle Zahlen auch „gibt“.

 



[64] Die Abbildung lautet (Chr. Blatter, Analysis 1, S. 56) wie folgt:                                                                                                                   

[65] Die komplexen Zahlen sind definiert als die Menge  aller geordneten Paare reeller Zahlen. Zusammen mit der Addition und Multiplikation

bildet diese Menge einen Körper. Das Nullelement ist (0,0), das Einselement (1,0). (vgl. O. Forster, Analysis 1, S. 79)