Kapitel 3

 

Die mengentheoretische Begründung natürlicher Zahlen

 

 

2.3.1 Das Dedekindsche Schnittaxiom

 

I. - Den Punkten des Definitionsbereiches werden bei – operativen – mathematischen Abbildungen ihre Bildpunkte per Abbildungsvorschrift in konstruktiver bzw. produktiver Weise zugeordnet. Der Bildpunkt resultiert jeweils aus den Verknüpfungen, denen der abzubildende Punkt gemäß der Abbildungsvorschrift unterzogen wird. Das ist die einzige – konstruktive - Möglichkeit, nach der eine Zuordnung von Punkt zu Bildpunkt erfolgen kann. Die Auswahl des Bildpunktes erfolgt über dessen Konstruktion bzw. Produktion. Ist der Definitionsbereich einer solcher Abbildung die Menge der natürlichen Zahlen, dann findet sich – definitionsgemäß – die Bildmenge zugleich auch abgezählt. Voraussetzung für die operative Ermittlung von Bildpunkten ist aber auch, daß Definitions und Bildbereich derselben – übergeordneten – Menge entnommen sind. Insofern sind die Elemente dieser beiden Mengen immer schon konstruiert bzw. produziert, so daß das ganze Abbildungsgeschehen – soweit es den davon tatsächlich betroffenen Bildbereich betrifft – so gesehen  in jedem Fall ein rekonstruktives ist.

 Man kann nur in Mengen abbilden, die schon vorliegen. Schließlich wollen Abbildungen immer auch definiert sein, und das könnten sie nicht, wenn nicht auch geklärt wäre, daß die in der Abbildungsvorschrift vorgesehenen Verknüpfungen mit allen Punkten des Definitions- bereiches auch ausgeführt werden können, und d.h., wenn allen diesen Punkten auch ein vorgegebener Bildpunkt zugeordnet werden kann. Nur dann nämlich kann die Frage, ob eine Abbildung definiert ist oder nicht, auch beantwortet werden. Man kann Verknüpfungen, so wie sie in Abbildungsvorschriften eingehen, nur auf vorgegebenen Mengen einrichten. Man kann – umgekehrt formuliert – Verknüpfungen Mengen nicht erst produzieren lassen wollen. Eine (zweistellige) Verknüpfung wie – beispielsweise und insbesondere – Addition und Multiplikation auf einer Menge sind Abbildungen von  nach M. Verknüpfungen führen also aus einer Menge nicht heraus. Eine Verknüpfung eine Menge erst definieren lassen wollen, würde also bedeuten, diese Verknüpfung unbestimmt, und d. h. nicht definiert sein lassen zu müssen. Man kann eine Abbildung eine Menge nicht – erst – produzieren und zugleich auch eine Abbildung auf eben dieser Menge definieren lassen. Abbildungen können grundsätzlich nur als Veranstaltung auf bzw. in bereits gegebene Mengen gedacht werden. Verknüpfungen können somit sinnvollerweise auch nur auf einer Menge als Ganzes definiert sein. Das aber setzt einfach voraus, daß diese Menge als Ganzes auch vorliegt, bevor sich eine Verknüpfung auf so einer Menge auch definieren läßt. Es kommen in solchen Verknüpfungen schließlich die allgemeinen Strukturen einer Menge zum Tragen, und diese Strukturen können nun einmal nur von einer Menge als Ganzes getragen sein.

Die Menge, innerhalb derer in der Mathematik Abbildungen letztendlich immer zum Tragen kommen, das ist – wie wir wissen – die Menge der reellen Zahlen. Diese Menge liegt der ganzen Mathematik zugrunde. Die Begründung dieser Zahlen steht deswegen auch ganz am Anfang der Mathematik. Alles, was in der Entwicklung von Mathematik dann an bzw. über Abbildungen beigebracht wird, dient nicht der Begründung dieser Zahlen, sondern ihrer Analyse. Insbesondere kann man durch so eine Abbildung nicht auf reelle Zahlen treffen, die es zuvor noch nicht gegeben hätte. Insofern auch treffen wir bei allen diesen Abbildungen auf nichts Neues. Das mögliche Bildmaterial ist allen Abbildungen vollständig vorgegeben. In Teilen – oder auch zur Gänze – findet es sich dann in jeder Abbildung wieder in der Weise „realisiert“, daß die Punkte des Definitionsbereiches den in der Abbildungsvorschrift allgemein formulierten Operationen unterzogen werden. Handelt es sich bei diesem Definitionsbereich um die Menge der natürlichen Zahl, werden die solcherart rekonstruierten Bildpunkte zugleich auch abgezählt. Die Bildmenge – definitionsgemäß eine Folge reeller Zahlen – ist dann eine abzählbare Menge. Die Frage ist, ob es so etwas auch für die ganze Menge der reellen Zahlen gibt, und d.h., ob es auch eine Abbildung mit den natürlichen Zahlen als Definitionsbereich gibt, deren Bild die ganze Menge der reellen Zahlen ist. Die reellen Zahlen könnten dann nicht nur abgezählt, sie könnten auch (re-)konstruiert werden. Das ist – wie gesehen – bei Abbildungen grundsätzlich so, daß sie Bildpunkte nur in rekonstruktiver Weise bzw. in rekonstruierter Art bereitstellen können.

So etwas wäre natürlich auch die beste Begründung, die die reellen Zahlen erfahren könnten. So funktioniert das schließlich auch bei der Erweiterung der Menge der natürlichen Zahlen zur Menge der ganzen Zahlen bzw. bei der Erweiterung der Menge der ganzen Zahlen zur Menge der rationalen Zahlen. In beiden Fällen liegt der Erweiterung eine präzise Konstruktionsvorschrift zugrunde. Es kann diese Konstruktionsvorschrift nur nicht zugleich auch als Abzählvorschrift Verwendung finden. Also, wie man von den natürlichen Zahlen zu den negativen ganzen Zahlen findet, das weiß man, genauso wie man weiß, was zu tun ist, um von den ganzen Zahlen zu den rationalen Zahlen zu kommen. In einem Fall ist den natürlichen Zahlen – formal – ein Minuszeichen voranzustellen; im anderen Fall sind – formal – Brüche aus ganzen Zahlen zu bilden. Gibt es so etwas auch für die Erweiterung der Menge der rationalen Zahlen zur Menge der reellen Zahlen?

Offensichtlich nicht. Würde man der Linie folgen wollen, die die beiden Erweiterungen zuvor bestimmt hat – bestimmte, in der nichterweiterten Menge allgemein nicht ausführbare Operationen auch unbeschränkt ausführen zu können – dann müßte man von den rationalen zu den reellen Zahlen dadurch kommen, daß man diese rationalen Zahlen um die Wurzeln aus allen positiven rationalen Zahlen ergänzt, sofern diese Wurzeln nicht bereits den rationalen Zahlen zugehören. Bekanntlich ist die Einführung negativer ganzer Zahlen von dem Motiv bestimmt, die in der Menge der natürlichen Zahlen nur beschränkt ausführbare Subtraktion unbeschränkt ausführen zu können, während die Einführung der rationalen Zahlen die Division unbeschränkt möglich machen soll, ausgenommen allein die nicht definierte und auch nicht definierbare Division durch Null. Was in der Menge der rationalen Zahlen weiterhin nicht möglich ist, das ist das Ziehen der Quadratwurzel aus den positiven rationalen Zahlen. Also würde es sich anbieten, die Menge der rationalen Zahlen um diese Quadratwurzeln zu einer Menge – nennen wir sie Menge der reellen Zahlen – zu erweitern, in der diese Operation des Quadratwurzelziehens dann auch unbeschränkt ausgeführt werden können sollte. Läßt sich das auf diese Weise aber auch sicherstellen?

Als konstruktiv könnte diese Erweiterung nur dann gelten, wenn sie aus der Ausgangsmenge „rationale Zahlen“ auch wirklich nur durch die Ergänzung der Quadratwurzeln aus den positiven rationalen Zahlen hervorginge und dann auch bezüglich dieser Operation „Quadratwurzelziehen“ abgeschlossen wäre. Das Ziehen der Quadratwurzeln aus bereits gezogenen Quadratwurzeln dürfte dann mit anderen Worten – zu keiner – dann im übrigen auch nicht definierten – Zahl führen, die in der Erweiterungsmenge nicht schon enthalten wäre. Das ist so der Fall bei der Erweiterung von den natürlichen zu den ganzen Zahlen, nachdem ein doppelt vorangestelltes Minuszeichen sich bekanntlich egalisiert. Das trifft so auch bei der Erweiterung von den ganzen zu den rationalen Zahlen zu, nachdem sich Brüche von Brüchen wieder in einen einfachen Bruch umformen lassen. Was die um die Quadratwurzeln aus den positiven rationalen Zahlen erweiterte Menge der rationalen Zahlen betrifft, sind wir in dieser glücklichen Lage nicht. Die Quadratwurzel aus der Quadratwurzel einer positiven rationalen Zahl ist im allgemeinen weder rational, noch fällt sie mit der Quadratwurzel einer anderen rationalen Zahl zusammen. Also ist diese Erweiterungsmenge nicht abgeschlossen gegenüber der Operation „Quadratwurzelziehen“.

 

II. - Eine Menge, in der – wie in der Menge der reellen Zahlen verlangt – diese Operation unbeschränkt ausgeführt werden kann, läßt sich somit nicht auf diese einfache konstruktive Weise einrichten. Die Begründung, die die Menge der reellen Zahl in dem entscheidenden, über die Menge der rationalen Zahlen hinausführenden Schritt erfährt, ist deswegen auch eine gänzlich andere. Der Schritt von den rationalen zu den reellen Zahlen läßt sich nicht mehr konstruktiv vollziehen. Dazu bedarf es eines Axioms auch dann, wenn man zuvor den konstruktiven Weg von den natürlichen Zahlen über die ganzen Zahlen zu den rationalen Zahlen gegangen ist.

Es gibt für dieses Axiom mehrere äquivalente Formulierungen. In der Form der Dedekindschen Schnittaxioms[51] zeigt sich dieses Axioms dabei sicherlich noch von seiner konstruktivsten Seite. Motiviert ist dieses Axiom von der Approximation der irrationalen Quadratwurzel bestimmter rationaler Zahlen wie etwa der Zahl . Diese Wurzel ist nicht rational. Eine gegenteilige Annahme läßt sich durch einige elementare algebraische Überlegungen zu einem Widerspruch führen.[52]

Dafür braucht man auch kein Axiom. Was man ohne Axiom auch noch sagen kann, ist dies, daß jede rationale Zahl sich durch einen endlichen oder periodisch-unendlichen b-al-Bruch darstellen läßt. Man kann zwei natürliche Zahlen nach dem allgemeinen Divisionsalgorithmus dividieren. Man bekommt dann eine durch ein Komma unterteilte – im allgemeinen unendliche – Folge von Zeichen, so wie sie uns – im endlichen Bereich – zur Darstellung natürlicher Zahlen dienen. Sofern diese Zeichenfolge nicht abbricht, kann es in ihr allerdings auch nur zur ständigen Wiederholung ein und derselben Gruppe von Zeichen kommen. In ihrer Darstellung als b-al-Brüche sind rationale Zahlen entweder endlich oder periodisch-unendlich. Man kann aber auch Brüche denken, die unendlich sind, ohne auch periodisch zu sein.

In ihrer Periodizität unterliegen Brüche einer strengen Regularität. Es ist allerdings auch nicht so, daß aus periodisch-unendlichen Brüchen nicht-periodisch unendliche Brüche allein dadurch werden könnten, daß ein Zeichen anders gesetzt bzw. daß für ein Zeichen ein anderes Zeichen gesetzt würde. Gestört, und d.h. aufgehoben wäre die Periodizität eines Bruches dann lediglich bis einschließlich der Einzelperiode, an der etwas verändert worden ist. Wenn alles danach weiter regulär läuft, dann ist und bleibt der Bruch ein periodisch-unendlicher. Es kommt bei Periodizität nicht darauf an, was in – anfänglichen – endlichen Bereichen nach dem Komma ist, unabhängig davon, wie umfangreich dieser Bereich auch sein mag. Entscheidend allein ist, wie sich so ein Bruch in seiner Bruchkomponente in dem auf alles anfängliche Endliche immer noch folgenden Unendlichen entwickelt. Das Verhalten von Brüchen in anfänglichen endlichen Teilbereichen der Bruchkomponente ist für die Frage der möglichen Periodizität eines Bruches ohne Bedeutung.

Von Bedeutung ist diese Feststellung ihrerseits aber in der Frage möglicher Kriterien, nach denen darüber befunden werden kann, ob ein unendlicher b-al-Bruch ein periodischer ist oder nicht. Periodische Brüche lassen sich ziemlich einfach konstruieren. Mögliche Periode eines Bruches ist jede endliche Folge von Zeichen, so wie sie zur Darstellung natürlicher Zahlen Verwendung finden, und d.h. mögliche Periode ist – formal betrachtet – jede natürliche Zahl in einem bestimmten System von Polynom-Darstellung natürlicher Zahlen. In der Bruchkomponente haben die einzelnen Zeichen nur einen anderen Stellenwert als sie ihn in der Darstellung natürlicher Zahlen haben, und d.h. als sie ihn auch in dem dem „ , “ vorangestellten ganzzahligen Anteil eines Bruches haben. Darauf kommt es im Augenblick allerdings nicht an. Wir stellen lediglich fest, daß ein periodisch-unendlicher Bruch einfach dadurch festgelegt werden kann, daß man eine beliebige „natürliche Zahl“ zur – unmittelbar nach dem Komma einsetzenden – Periode eines Bruches erklärt.

 

Das ist also kein Problem. Das Problem ist umgekehrt dies, wie sich einem unendlichen Bruch, der explizit-materiell immer nur in einem – anfänglichen – endlichen Teilstück vorliegen kann, entnehmen läßt, ob dieser Bruch ein periodischer ist oder nicht. Wie wir wissen, läßt sich das nicht anhand – anfänglicher – endlicher Teilstücke eines Bruches entscheiden. Die dafür benötigten Informationen müßten schon aus einer anderen Quelle als der einer notwendig nur fragmentarischen Darstellung unendlicher Brüche kommen. Was unsere Quadratwurzel aus 2 anbelangt, so können wir diese Informationen allgemein-algebraischen Überlegungen entnehmen. Damit steht fest, daß  weder durch einen endlichen, noch durch einen periodisch-unendlichen b-al-Bruch dargestellt sein kann. Dieser – zunächst nur als fiktiv anzunehmende – „Wert  “ läßt sich von unten bzw. von oben durch eine monoton wachsende bzw. monoton fallende Folge endlicher Brüche immer besser approximieren, wobei jedes Element der monoton wachsenden Folge im Quadrat kleiner als 2, jedes Element der monoton fallenden Folge im Quadrat dagegen größer als 2 ist. Jedes Element der monoton wachsenden Folge ist so eine untere Schranke der monoton fallenden Folge, während jedes Element der monoton fallenden Folge eine obere Schranke für die monoton wachsende Folge darstellt.

Die – gegenläufige – Monotonie beider Folgen läßt diese Folgen auch eine Intervallschachtelung definieren. Daß durch die Folgenglieder mit gleichem Folgenindex festgesetzte Intervall, liegt jeweils in dem durch das vorhergehende Paar „gleicher“ Folgenglieder bestimmten Intervall. Das ist die Situation, so wie sie sich uns bezüglich der Annäherung an die – zunächst noch rein imaginär gehandelte und behandelte – Größe  darstellt. Man kann sich jetzt fragen, was man tun kann, um die – mathematische – Existenz dieser Größe sicherzustellen. Sehen wir einmal nicht auf unsere Approximationsfolgen, sondern nur auf die Monotonie der Potenz für positive rationale Zahlen, so wäre zu sagen, daß durch unsere imaginäre Größe  die Menge der rationalen Zahlen in die Teilmenge der positiven rationalen Zahlen, deren Quadrat kleiner 2 ist, ergänzt um die negativen rationalen Zahlen auf der einen Seite, und die Teilmenge der positiven rationalen Zahlen, deren Quadrat größer als 2 ist, auf der anderen Seite zerfällt. Damit ist durch „  “ ein Dedekindscher Schnitt auf der Menge der rationalen Zahlen definiert.

Durch jede rationale Zahl ist so ein Schnitt definiert. Es gibt – wie sich gerade gezeigt hat – allerdings auch Schnitte, die durch keine rationale Zahl „erzeugt“ sind. Soll aus positiven rationalen Zahlen die Quadratwurzel gezogen werden können, dann ist diese Menge um „Zahlen“ zu erweitern, die durch einen nicht-rationalen Dedekindschen Schnitt in dieser Menge der rationalen Zahlen „erzeugt“ sind. Als Axiom, das uns den Schritt von der Menge der rationalen Zahlen zur Menge der reellen Zahlen vollziehen läßt, könnte dann formuliert werden: „Zu jedem Dedekindschen Schnitt ‚gehört‘ eine erzeugende reelle Zahl“.[53]

Etwas weniger existenzbezogen könnte man alternativ sagen: „Jeder Dedekindsche Schnitt in der Menge der rationalen Zahlen heißt eine reelle Zahl“.[54] Die „Existenz “einer „Zahl“ wie  wäre auch dadurch sichergestellt, daß man den Durchschnitt aller Intervalle einer Intervallschachtelung nicht leer sein läßt. Dann wäre auch sichergestellt, daß dieser Durchschnitt aus genau einem Punkt besteht, nachdem er ohnehin höchstens einen Punkt enthalten kann. Daß dieser Durchschnitt nicht leer ist, das kann auch nur als Axiom formuliert bzw. postuliert werden, sofern uns zum Beweis dieser Behauptung nicht eine alternative Formulierung dieses Axioms wie beispielsweise das Dedekindsche Schnittaxiom zur Verfügung steht. Auch das Vollständigkeitsaxiom, wonach im Körper der reellen Zahl jede Cauchy-Folge konvergiert, würde uns den „Satz von der Intervallschachtelung“ beweisen lassen.

 

III. - Die Bezeichnung Vollständigkeitsaxiom erfährt in der Literatur zumeist auch eine Eigenschaft reeller Zahlen, die darin besteht, daß jede nicht-leere, nach oben beschränkte Teilmenge reeller Zahlen ein Supremum in der Menge der reellen Zahl besitzt. Das Vollständigkeitsaxiom in dieser Formulierung dient auch zum Beweis der Konvergenz beschränkter monotoner Folgen, ein Ergebnis, das wir benötigen, um den allgemeinen Quadratwurzel-Algorithmus erfolgreich gestalten zu können. Es ist dies eine Formulierung auch, die im Gegensatz zum Dedekindschen Schnittaxiom bzw. dem Axiom von der Intervallschachtelung weniger konstruktiv in dem Sinne ist, daß sie bereits von einer vollständig gegebenen – wenn auch noch nicht vollständig identifizierten – Menge ausgeht, so wie das bei jedem axiomatischen Vorgehen die Norm ist.

Es wird dabei nicht etwa versucht, die bereits vollständig konstruierte bzw. produzierte Menge der rationalen Zahlen zur Menge der reellen Zahlen zu erweitern. Beim Dedekindschen Schnittaxiom bzw. beim Axiom von der Intervallschachtelung wird – in der Formulierung bzw. Interpretation, die wir diesen Axiomen gegeben haben – genau das versucht. Die Menge der rationalen Zahlen wird dort um die Menge nicht-rationaler „Schnittzahlen“ bzw. um die Durchschnitte von Intervallen ergänzt. Das Verfahren bekommt dadurch schon eine gewisse konstruktive Note. Ob ein Schnitt rational ist oder nicht, das läßt sich schließlich auch nur anhand eines konkreten Zahlenmaterials überprüfen. Insbesondere müßte die jeweilige Schnittstelle genau markiert werden können. Alternativ dazu könnte nur eine nicht abbrechende Approximationsfolge für die – ihrem Zahlenwert nach – nicht identifizierbare Schnittstelle angegeben werden, so wie wir das mit unserer  auch praktiziert hatten.

Man kann sich jetzt fragen, in welcher Beziehung so eine Approximationsfolge zu dem „Zahlenwert“, der dadurch approximiert sein soll, steht, wenn diese Approximationsfolge – notwendig – aus der ständigen Fortentwicklung einer einzigen Folge besteht. Wie uns der allgemeine Algorithmus zur Berechnung von Quadratwurzeln[55] zeigt, ist der zu approximierende Punkt bzw. ist die zu approximierende Quadratwurzel gleich dem Grenzwert der Approximationsfolge. Kann man dann aber auch sagen, daß so eine Quadratwurzel gleich der unendlichen Approximationsfolge ist? Die Gleichsetzung ist sicherlich nicht von der Qualität, wie wir sie bei der Gleichsetzung von endlichen Brüchen mit rationalen Zahlen bzw. – elementarer noch – bei der Gleichsetzung von natürlichen Zahlen mit bestimmten endlichen Zahlzeichenfolgen haben.

 

Grenzwerte können nicht einfach den Folgen, für die sie Grenzwerte sind, gleichgesetzt werden. Wie wir wissen verfügt eine jede unendliche Folge – wenn sie denn konvergiert – über genau einen Grenzwert, so daß sich eine Identifizierung – wenn auch nicht Gleichsetzung – von Folge und Grenzwert schon auch anbietet. Die Frage ist nur, wie wir zu so einer unendlichen Folge in Form und Gestalt eines unendlichen Bruches finden, wenn dieser Bruch kein periodisch-unendlicher Bruch sein soll bzw. sein kann. Daß  durch keinen solchen Bruch dargestellt sein kann, das wissen wir, einfach weil diese  nachweislich nicht rational ist und damit auch eine Darstellung dieser Zahl in Form  und Gestalt eines endlichen bzw. periodisch-unendlichen Bruches ausscheidet. Damit kommt für eine operationsfreie Darstellung von  nur ein unendlicher, nicht-periodischer Bruch in Frage. Man könnte sich natürlich auch mit dem operativen Ausdruck  begnügen. Allerdings werden wir dann auch nicht sagen können, welches der Zahlenwert der Zahl  ist. Dazu müßte diese Operation des Quadratwurzel-Ziehens aus der Zahl 2 schon auch ausgeführt werden können und als ausgeführt kann sie dann gelten, wenn wir für diesen operativen Ausdruck einen gleichwertigen „Ersatz“ in Form und Gestalt einer (Zahl-)zeichenreihe gefunden haben. Diese Zeichenreihe kann auch durch ein Komma  unterteilt sein, und sie bricht nach dem Komma möglicherweise auch nicht ab.

Die einzigen Zahlen, die von Definitions wegen sozusagen über eine operationsfreie Darstellung verfügen, das sind die natürlichen Zahlen. Bei den negativen ganzen Zahlen findet sich schon ein Minuszeichen vorangestellt, das aber nicht weiter operativ verkürzt werden kann. Dieses Minuszeichen muß im übrigen auch nicht unbedingt operativ gedeutet werden. Dieses Minuszeichen kann einfach auch als Zeichen für das Negative einer Zahl, so wie es in den Axiomen der Addition für jede reelle – also auch natürliche – Zahl postuliert ist, gedeutet werden. Anders verhält es sich da schon mit den Brüchen, mit der rationale Zahlen ihre – natürliche – Darstellung finden. In dieser Darstellung ist eindeutig auf eine Division abgehoben, so wie wir sie von den natürlichen Zahlen her – dort wo sie auch möglich ist – kennen.

Die Einführung rationaler Zahlen dient schließlich auch dazu, die im Bereich der natürlichen bzw. ganzen Zahlen nur beschränkt mögliche Division auch unbeschränkt ausführbar werden zu lassen. Das läßt sich natürlich bequem einfach dadurch einrichten, daß man alle – formal – nur möglichen Divisionen explizit auch anzeigt, wenn auch nicht ausführt. Jeder – formale – Quotient aus zwei ganzen Zahlen markiert dann einfach eine rationale Zahl. Auf dieser Menge von – formalen – Quotienten – läßt sich dann auch eine Division – genauso wie eine Addition und Multiplikation – einführen, die nicht über diese Menge von Quotienten hinausführt.[56]

Das Rechnen mit rationalen Zahlen ist in den allgemeinen Bruchregeln festgehalten. Werden diese Zahlen als Teilmenge auf den bereits etablierten bzw. begründeten reellen Zahlen eingeführt, so sind diese Rechenregeln aus den (Körper-) Axiomen für die reellen Zahlen zu beweisen. Ansonsten, und d.h., wenn diese rationalen Zahlen aus einer konstruktiven Erweiterung der Menge der ganzen Zahlen hervorgehen, können diese Rechenregeln als Definitionen für Addition, Multiplikation und Division rationaler Zahlen gelten. Dann ist allerdings zu zeigen, daß sich diese Operationen mit den entsprechend für die ganzen Zahlen bereits gegebenen Operationen vertragen, wenn jede ganze Zahl p als  in die Menge der rationalen Zahlen eingeht.

 



[51] vgl. dazu Meyers Handbuch über die Mathematik, Mannheim 1972; S. 122 : „Ein Paar (M1, M2) von nichtleeren Teilmengen einer linear geordneten Menge M heißt ein Dedekindscher Schnitt, wenn

a)        und

b)       Aus  und y Î M2 folgt: x < y

Die Menge  heißt die Unterklasse, die Menge  die Oberklasse des Dedekindschen Schnittes“

[52] In aller Ausführlichkeit wird dieser Beweis in S. Lang, Analysis I, S. 25 geführt.

[53] Meyers Handbuch über die Mathematik, Mannheim, 1972, S. 122

[54] ebd. S. 123

[55] Siehe dazu O. Forster analysis 1, § 6 S. 34 ff.

[56] Siehe zu dieser allgemeinen algebraischen Konstruktion beispielsweise H.-J. Reiffen, G. Scheja, U. Vetter, Algebra, Mannheim 1969, S. 130.