2.2.4 Der nicht formalisierbare Mechanismus der Darstellung natürlicher Zahlen

 

 I. – Dem Verfahren zur Darstellung natürlicher Zahlen läßt sich axiomatisch nicht beikommen. Wir verfügen zu diesem Verfahren nur über einen konstruktiven Zugang und zwar über einen konstruktiven Zugang der engeren Art in dem Sinne, daß dabei auch nicht von dem Material in seiner ganz konkreten Gestalt, das dabei Verwendung findet, –  im Dezimalsystem sind das die Zeichen 0, 1, 2, 3 ..., in eben dieser materiellen Ausführung –abstrahiert werden kann. Man kann dieses Verfahren nicht durch allgemeine Prinzipien in seiner Anwendung auf ein allgemeines Material beschreiben wollen. Wenn man sagen will, wie dieses Verfahren funktioniert, dann kann man das nicht, indem man irgendein Material nur zu Demonstrationszwecken benutzt. Man muß dieses Material dann schon dieses Verfahren selbst auch ausführen lassen. Dieses Material ist dann nicht einfach nur Mittel zum Zweck, um sich zeigen zu lassen, was man sich ohne Material nun einmal nicht zeigen lassen kann, ohne daß das, was man sich zeigen läßt, mit dem Material als solchem etwas zu tun hätte.

Nun kann das, was uns dieser Verfahren zu zeigen vermag, an jedem beliebigen Material, und d.h., an jeder beliebigen in Reihenfolge geordneten endlichen Menge von Zeichen gezeigt werden, und insofern ist dieses Verfahren vom Material, auf das es wirkt, unabhängig. Sobald dieses Material aber einmal ausgewählt ist, ist der Vollzug dieses Verfahrens ganz von diesem Material bestimmt. Die Zeichen in ihrer konkreten Gestalt sowie dem Regelwerk nach dem sie zu endlichen Zeichenfolgen verschiedenster Länge sowie Zusammensetzung verbunden werden, zeigen uns dann, wie das mit diesem Verfahren funktioniert. Man kann sich dieses Verfahren bzw. Regelwerk nur anhand einer konkreten Auswahl von Zeichen demonstrieren lassen. Dadurch, daß diese Zeichen in Reihenfolge geordnet vorliegen müssen, sind diese Zeichen einfach in einer ganz anderen Weise konkretisiert bzw. zu konkretisieren, als wenn einfach nur – formal-abstrakt – von einer gewissen  endlichen – im einzelnen unbestimmt gelassenen – Menge von Zeichen ausgegangen zu werden bräuchte.

Man kann das Phänomen Reihenfolge nicht einfach nur formal-abstrakt behandeln wollen. Dieses Phänomen läßt sich einfach nicht so formalisieren, wie im allgemeinen – abstrakten – Formalismus der Mathematik formalisiert wird. Will sich eine Menge von Zeichen nicht nur durch eine Anordnung in räumlicher Linie in – einer – Reihenfolge präsentieren, dann muß in dieser Menge durch diese Zeichen selbst eine Ordnung begründet sein, in der jedes Zeichen von sich aus auf das diesem Zeichen folgende Zeichen verweist. Bei endlichen Mengen könnte man sich so etwas noch ganz willkürlich festgesetzt denken. Bei unendlichen Mengen dagegen müßte diese Information von den einzelnen Zeichen selbst kommen. Wie aber kann diese Information von einem Zeichen kommen, wenn uns dieses nichts anderes anzubieten hat als das, was es an äußerer Form und Gestalt aufzubieten hat? Offenbar doch nur so, daß sich diese Zeichen zu Zeichenfolgen verbinden und uns in der Weise, in der sie das tun, sagen, wie die auf eine bestimmte Zeichenfolge folgende Folge auszusehen hat. So etwas läßt sich natürlich nur einheitlich für alle Zeichenfolgen regeln, und d.h., es läßt sich nur regeln durch ein allgemeines Verfahren, das einem Gesetz der Serie gleich alle diese Zeichenfolgen nach und nach, und d.h., in fortlaufender Reihenfolge produziert bzw. produziert sein läßt. Am besten läßt man dabei alle Möglichkeiten endlicher Kombination, die mit den endlich vielen vorgegeben Zeichen möglich sind, sich auch ausschöpfen. Das dazu erforderliche Regelwerk wäre dann auch das einfachst mögliche. Unabhängig davon müssen in jedem Fall die vorgegebenen bzw. vorzugebenden Zeichen zuvor selbst auch – auf die vorhin erwähnte willkürliche Art und Weise – in eine Reihenfolge gebracht sein.

 Wenn immer nur Zeichen an Zeichen und Zeichen für Zeichen gesetzt wird – und in der Entwicklung von Zeichenfolgen gibt es dazu auch keine Alternative, weil selbst ein simultanes Setzen mehrerer Zeichen nach erfolgtem Setzen in natürlicher Weise auch wieder nur als ein Setzen Zeichen für Zeichen interpretiert werden könnte – kann der dabei produzierten Menge von Zeichenfolgen eine Reihenfolge nur dann entnommen werden, wenn die Zeichen, die uns dafür zur Verfügung stehen, ihrerseits in eine solche Reihenfolge gebracht sind. Eine Reihenfolge unter allen diesen Zeichenfolgen gibt es also nur, weil auch in den vorgegebenen Zeichen, und weil in den daraus gebildeten Zeichenfolgen in der Reihenfolge gesetzter Zeichen  ganz bewußt auf Reihenfolge gesetzt wird. Es wird dabei also schon sehr gezielt nicht nur darauf gesehen, welche Zeichen gesetzt sind, sondern auch darauf, wie diese Zeichen, und d.h. in welcher Reihenfolge sie gesetzt sind.

 

 II. - Man kann das, was dieser Mechanismus leistet, unabhängig von der konkreten Auswahl einzelner Zeichen und der konkreten Darstellung einzelner Zeichenfolgen beschreiben. Wir haben das an anderer Stelle auch schon getan. Eine solche Beschreibung bietet allerdings noch keine Gewähr dafür, daß das Beschriebene auch einer mathematischen bzw. logischen Formalisierung zugänglich sein könnte. Eine solche Formalisierung ist notwendig dann zum Scheitern verurteilt, wenn das, was formalisiert sein soll, so ist, daß es sich uns nur in seiner konkreten Darstellung und in seinem konkreten Vollzug, nicht aber auch über einige seiner strukturellen Eigenschaften erschließt. Formalisieren heißt immer auch abstrahieren, und abstrahieren in mathematischen und logischen Dingen heißt auf Struktur und Beziehung allein zu sehen und zu setzen, nicht aber auch auf das, was so eine Struktur und so eine Beziehung – materiell – ausfüllt.

 Mit dem Phänomen Reihenfolge ist so etwas aber nun gerade nicht möglich. Daß ein Element einem anderen Element in einer ganzen Menge von Elementen folgt, und zwar aufgrund von Gestalt und Darstellung dieser Elemente, also systembedingt folgt, damit sind die Elemente einer Menge sicherlich zueinander in Beziehung gesetzt und dadurch ist sicherlich auch eine Struktur auf einer Menge begründet. Es kann diese Begründung nur nicht losgelöst von der konkreten Realisierung von Reihenfolge geleistet werden, und diese konkrete Realisierung kann auch nur so aussehen, wie sie unser Verfahren am ausgewählten, konkreten Material aussehen läßt. Das Phänomen Reihenfolge läßt sich nicht abstrakt-formal in der Weise begründen, daß allgemeine Kriterien festgelegt werden könnten, die uns jede Menge daraufhin überprüfen ließen, ob diese Menge eine in Reihenfolge geordnete Menge ist oder nicht. So etwas kann man sich nur von einer Menge selbst sagen lassen, und sagen lassen kann man es sich in ursprünglicher Weise auch nur von einer Menge von Zeichenfolgen, so wie sie beispielsweise und insbesondere aus der Anwendung unseres Verfahrens auf eine vorgegebene endliche, in – beliebiger – Reihenfolge geordnete Menge von Zeichen hervorgeht.

 Endliche Mengen kann man nach Belieben in eine Reihenfolge bringen bzw. sich in eine solche Reihenfolge gebracht denken. Unendliche Mengen muß man das schon selbst tun lassen, und man kann sie das nur tun lassen, indem man sie sich selbst einem Verfahren wie dem zur Produktion der die natürlichen Zahlen darstellenden Zeichenfolgen folgend produzieren läßt. Wir können uns zwar die Zeichenmenge, mit der wir diesen Mechanismus starten wollen, aussuchen, und auch in der Reihenfolge, in die wir diese Zeichen zu bringen haben, sind wir frei. Wir müssen uns nur für eine bestimmte Anzahl von Zeichen entscheiden, auch wenn wir diese Anzahl nicht beziffert zu haben brauchen, um dieses Verfahren in Szene setzen zu können. In einer – versuchten – Formalisierung dieses Verfahrens wird man diese Anzahl allerdings durch ein Symbol n – stellvertretend für irgendeine unter den natürlichen Zahlen – zu veranschlagen haben. Damit wäre allerdings noch nicht viel gewonnen.

Wir wissen wie der besagte Mechanismus zu beschreiben ist. Die Frage ist, wie dieses Verfahren mathematisch auch formalisiert werden könnte. Bekanntlich werden im Vollzug dieses Verfahrens zuerst alle Zeichen der vorgegebenen Zeichenmenge, in eben der Reihenfolge, in der wir uns diese Zeichen vorgeben, gesetzt, also im Dezimalsystem 0, 1, 2, 3.... Man könnte jetzt meinen, daß das Problem der Formalisierung dieses Verfahrens in diesem seinem ersten Teil dadurch gelöst wäre, daß man einfach auf eine Menge  Bezug nimmt. Das aber hieße bereits von dem Gebrauch machen, was uns durch diese Formalisierung erst zur Verfügung gestellt sein kann: ein Verfahren zur Darstellung von Reihenfolge nämlich. Abgezählt bzw. durchnumeriert wird definitionsgemäß ausschließlich mit Hilfe der natürlichen Zahlen. Das ist dann allerdings in keinem Fall eine abstrakte, sondern durchwegs eine konkrete Angelegenheit. Man kann nicht abstrakt, sondern nur konkret abzählen. Es ist dann schon immer auch die ganze konkrete natürliche Zahl, die den einzelnen Elementen der abzuzählenden Menge zugeordnet wird. Es kommt dabei nicht auf die Reihenfolge der Bildpunkte, wohl aber auf die Reihenfolge der natürlichen Zahlen an. Abgezählt wird grundsätzlich auch nur in der diesen Zahlen natürlichen Reihenfolge. Wie aber kommt man zu dieser Reihenfolge?

 Unser Verfahren bietet uns – eine – Reihenfolge in – einer – konkreten Ausführung an. Zugleich auch stellen wir fest, daß diese Ausführung auch genau die Ausführung ist, die wir in derselben Reihenfolge auch den natürlichen Zahlen geben. Unser Verfahren ist das Verfahren zur Darstellung der die nicht-endliche Menge der natürlichen Zahlen darstellenden endlichen Zeichenfolgen. Dafür hat auch der mathematische Formalismus nichts anderes anzubieten. Wo immer in diesem Formalismus Reihenfolge explizit gemacht wird, wird sie in Form und Gestalt einer unserem Mechanismus folgenden Darstellung der natürlichen Zahlen explizit gemacht. Eine endliche Menge findet dann ihre allgemein-formale Darstellung als . Dann wird eben ganz konkret mit 1, 2, 3... zu zählen angefangen. Das Ende dagegen wird wieder ganz allgemein mit n indiziert. Das Konkrete vermischt sich so mit dem Abstrakten. Das ausschließlich formale System für Reihenfolge gibt es eben nicht. Will man beispielsweise wissen, wie es nach einem aus einer in Reihenfolge geordneten Menge beliebig heraus­ge­griffenen Element  weitergeht, so kann man dazu nur so viel sagen, daß das diesem Element folgende Element das Element , und daß diesem wiederum folgende Element das Element  usf. ist.

 Wo immer wir also auch bei Reihenfolge konkret werden wollen, können wir das nur mit Hilfe der konkreten natürlichen Zahlen. In ihrer konkreten Darstellung als (Zahl-)zeichenfolgen sind diese Zahlen ein Produkt unseres Verfahrens. Eine Formalisierung dieses Verfahrens hätte demzufolge ohne dieses Produkt, und d.h., ohne Verwendung der die natürlichen Zahlen darstellenden Zeichenfolgen zu erfolgen. Damit kann die Zeichenmenge, die in geordneter Reihenfolge diesem Verfahren vorzugeben ist, damit dieses auch wirksam werden kann, zur Kennzeichnung dieser Reihenfolge nicht einfach per natürlicher Zahlen durchnumeriert werden. Wir können diese Zeichenfolge nicht einfach als endliche Mengen  charakterisieren. Damit aber ist eine Formalisierung dieses Verfahrens auch nicht möglich. Es ist auch keine Formalisierung dadurch erreicht, daß die verwendeten Zeichen, in der Reihenfolge, in der wir sie uns verwendet denken, explizit aufgezählt werden.

 Das ist dann nicht formalisiert, sondern einfach nur konkretisiert. Da wird die ganze Menge von Zeichen, mit der das ganze Verfahren gestartet werden soll, Zeichen für Zeichen einfach aufgeführt. Wenn wir die Voraussetzungen dafür schaffen, daß dieses Verfahren tätig werden kann, und d.h., wenn wir uns die Zeichen zurechtlegen, mit denen wir in dieses Verfahren hineinzugehen gedenken, dann kann so etwas auch nur der ganz konkreten Vorbereitung dieses Verfahrens dienen. Auch dann müssen wir uns die Reihenfolge, in der wir die Zeichen zu ordnen haben, einfach zurechtlegen, ohne dabei – in welcher Funktion auch immer -  auf natürliche Zahlen zurückgreifen zu können.

 Wir haben diese Zahlen dann – noch – nicht, weil sie Produkt und Ergebnis dieses Verfahrens sind, in dessen Vorbereitung wir uns  gerade versetzt denken. Wir können zu diesem Zeitpunkt dann auch noch nicht wissen, daß wir mit der Reihenfolge dieser Zeichenmenge auch ein erstes Stück Reihenfolge der natürlichen Zahlen festlegen. Im Gesamtsystem bzw. Gesamtprodukt unseres Verfahrens werden diese ersten Zeichen in der Reihenfolge, in der wir sie setzen, auch zu den ersten natürlichen Zahlen in der diesen Zahlen eigenen Reihenfolge. Diese Zeichen haben wir uns einfach vorzugeben.

Dieser Teil des Verfahrens ist also nicht mechanisiert. Das heißt natürlich nicht, daß wir in diesem Teil Zugriff auf die Reihenfolge der natürlichen Zahlen hätten. Der Stellenwert eines Zeichens bzw. einer Zeichenfolge resultiert allein aus der Position, die es bzw. die sie in dieser ganzen Reihenfolge einnimmt. Bei den anfänglichen Zeichenfolgen, die nur aus jeweils einem einzigen Zeichen bestehen, müssen wir uns diese Reihenfolge einfach merken. Mit diesem Wissen kann dann aber jeder zusammengesetzten Zeichenfolge die Position, die sie innerhalb der ganzen Reihenfolge solcher Positionen einnimmt, aus der Reihenfolge, in der in ihnen die einzelnen Zeichen gesetzt sind, entnommen werden.

 

 III. - Das Verfahren zur Darstellung der natürlichen Zahlen kann also nicht formalisiert werden. In der Mathematik und auch in der Philosophie der Mathematik ist von diesem Verfahren deswegen auch nichts zu sehen. Er ist kein Gegenstand der mathematischen bzw. philosophischen Analyse. Alles, was sich dazu aus formaler Sicht sagen läßt, ist in den Peano-Axiomen festgehalten. Dieses ganze Axiomen-System ist ein Versuch der funktionalen bzw. operativen Beschreibung des Phänomens Reihenfolge. Dazu muß die Menge, die begründet sein soll, allerdings schon einmal als gegeben vorausgesetzt werden. Diese Voraus­setzung, die man allgemein doch für recht un­problematisch halten dürfte, hat in diesem Fall allerdings recht weitreichende Konsequenzen.

 Die Konsequenz besteht einfach darin, daß diesem Axiomen-System zufolge auch Modelle der Menge der natürlichen Zahlen möglich sind, die in ihren einzelnen Elementen aus Zeichenfolgen bestehen,[47] die sich – effektiv – nur aus einem einzigen Zeichen zusammensetzen. In so einem System von Darstellung können die einzelnen Zeichenfolgen nur hinsichtlich ihrer Länge miteinander verglichen, nicht aber auch in ihrer genauen Größe festgestellt werden. Dazu müßte abgezählt werden, und gerade das ist in so einem System nicht möglich. Möglich ist das nur in einem System, das von unserem Verfahren getragen ist, weil in jedem solchen System sich die dabei produzierten Zeichenfolgen in einer sprachlich kommunikativen Weise selbst abzählen.

 Die Peano-Axiome reichen einfach an die natürlichen Zahlen in der diesen Zahlen eigenen Identität und Intelligibilität nicht heran. Die Mengen, die diesen Peano-Axiomen genügen, müssen nicht notwendig auch der Menge der natürlichen Zahlen genügen. Diese Mengen sind nicht notwendig auch Darstellung der Menge der natürlichen Zahlen. Man sollte nicht erst abzählen müssen – selbst wenn man es könnte – um einer Zeichenfolge entnehmen zu können, welches die dadurch dargestellte natürliche Zahl ist. Wenn es – so wie in allen diesen „Ein-Zeichen-Modellen“ – nur auf die Anzahl der Zeichen ankommt, die in einer Folge gesetzt sind, dann ist es im übrigen auch belanglos, ob diese Zeichen in Reihenfolge gesetzt sind oder nicht. Man könnte sie auch anders anordnen. Die einzelnen Zeichen bringen sich nicht auch über ihre Position in die Zeichenfolge ein. Sie tun das nur über ihre Präsenz als schlichtes und einfaches Zeichen. Da kann dann auch nur einfach auf die Anzahl gesetzter Zeichen gesetzt werden, auch wenn diese Anzahl in so einem System nicht auch festgestellt werden kann. Die einzelnen Zeichenfolgen sind damit systemintern ohne eigene Identität.

 Von natürlichen Zahlen erwartet man sich natürlich ganz anderes. Dann muß das alles aber auch ganz anders organisiert sein. Eine eigene, systemimmanente Identität gibt es nur, wenn dieses System von Zeichenfolgen ein unserem Verfahren folgendes System von Zeichenfolgen ist. Dieses Verfahren läßt sich – wie gesagt – nur nicht formalisieren, und damit hat es im allgemeinen Formalismus der Mathematik auch keinen Platz. Das heißt nun allerdings nicht, daß sich dieser Formalismus völlig unabhängig von der konkreten Darstellung natürlicher Zahlen gestalten ließe. Die eigentliche Mathematik – das kann man sagen – spielt im Unendlichen, und in dieses Unendliche – oder vielleicht sollte man besser nur sagen: in dieses Nicht-Endliche bzw. Unendlich-Endliche – führen uns nur die natürlichen Zahlen in – einer – ihrer ganz konkreten Darstellungen.

 Ganz deutlich sieht man das bei Reihenbildungen. Der Summationsindex läuft dort von 1 bis . Das könnte man sich hier auch anders vorstellen. Es könnte als Summationsindex einfach ein „  “ vermerkt sein. Das würde also bedeuten, daß nicht in der den natürlichen Zahlen natürlichen Reihenfolge summiert zu werden hätte, sondern daß diese Reihenfolge irgendeine Reihenfolge sein könnte. Welche Reihenfolge dies aber auch sein mag, es wird sich dabei als Reihenfolge in der Reihenfolge der darin gesetzten – einfachen – Elemente nur um die Reihenfolge der natürlichen Zahlen handeln können. Es gibt einfach keine andere bezifferte bzw. anders bezifferbare Reihenfolge.

Was bei Reihen interessiert, das ist der mögliche Grenzwert, den so eine Reihe hat. Reihen wollen mit anderen Worten ausgerechnet sein, wenn sie sich denn auch ausrechnen lassen. Ausrechnen lassen sie sich aber nur, wenn auch das dafür benötigte Zahlenmaterial in einer konkreten Darstellung und nicht einfach nur per allgemeiner Abbildungsvorschrift in der allgemeinen unabhängigen Variablen n verfügbar ist. Insbesondere muß es so eine Darstellung für die natürlichen Zahlen geben. Diese Zahlen werden auf jeden Fall vollständig benötigt. Wo jede einzelne natürliche Zahl getrennt bedient werden muß, kann sie auch nur in konkreter Darstellung bedient werden. Natürlich wird man sich dabei auch auf eine Reihenfolge verständigen müssen, wenn das alles auch der Reihe nach abgewickelt werden soll, weil es auch nur der Reihe nach abgewickelt werden kann.

 Bei den natürlichen Zahlen haben wir diese Reihenfolge auch; wir haben sie in Form und Gestalt einer unserem Verfahren folgenden Serie von Zeichenfolgen. Wenn erst einmal die natürlichen Zahlen definiert und konstruiert sind, haben wir damit natürlich ein bequemes Instrument, das uns ins Unendliche trägt, wo und wann immer wir dies wollen. Unendliche Folgen – so wie sie im übrigen auch Reihen darstellen – lassen sich dann einfach über eine ganz formale Abbildungsvorschrift, die die Menge der natürlichen Zahlen zum Definitionsbereich hat, und in die Menge der reellen Zahlen führt, definieren.

 Die allgemeine Theorie unendlicher Folgen ist eine formale Theorie wie jede andere Theorie der Mathematik auch. Es geht in dieser Theorie ausschließlich um Konvergenzfragen. Das ist einfach das, was bei Folgen interessiert, und was bei Folgen auch nur interessieren kann. Eine Abbildungsvorschrift für sich genommen ist ziemlich nichtssagend. Was interessiert, das ist die Frage, wohin es führt, wenn man für die unabhängige Variable n in so eine Abbildungsvorschrift immer größere natürliche Zahlen einsetzt. Zwangsläufig wird es dann auch konkret. Es würde dabei allerdings auch nichts nützen, wenn man nur exemplarisch herausgegriffene Bildpunkte, und d.h., Folgenglieder in Betracht ziehen würde bzw. könnte. Man muß vielmehr die Entwicklung abschätzen können, so wie sie sich im Unendlichen gestaltet. Unendliche Folgen sind schließlich ohne ein letztes Folgenglied, das uns dann auch als Grenzwert dienen könnte.

 Sieht man einmal von den mathematisch ziemlich uninteressanten konstanten Folgen ab, dann liegt der Grenzwert einer Folge immer außerhalb der Folge. Nichtsdestoweniger hat so ein Grenzwert etwas von einem Abschluß der Folge an sich. Es ist dieser Grenzwert – so es ihn denn auch gibt – der Punkt, auf den alles zuläuft. Es gibt für die Grenzwert-Ermittlung kein allgemeines Rechenverfahren und auch keinen allgemeinen Algorithmus. Es gibt allgemeine Regeln, die beinhalten, daß die Limes-Bildung mit den allgemeinen algebraischen Operationen, und d.h., Grundrechnungsarten vertauschbar ist. Man kann mit anderen Worten die unabhängige Variable überall dort, wo sie in der Abbildungsvorschrift in Erscheinung tritt, in der ihr dabei zugeordneten mathematischen Operation einem getrennten Grenzwertverfahren unterziehen. Man kann so die ganze Abbildungsvorschrift in eine Reihe verhältnismäßig einfach gestalteter Teilvorschriften zerlegen und getrennt auf ihr – vergleichsweise dann auch einfach zu ermittelndes – Grenzwertverhalten hin untersuchen.[48]

 Die einzelnen Grenz­werte müssen – so es sie denn auch alle gibt – dann nur noch entsprechend den in der allgemeinen Abbildungs­vorschrift enthaltenen algebraischen Verknüpfungen zu einem „Gesamtgrenzwert“ zusammengefaßt werden. Die Möglichkeit einer solchen Zerlegung und getrennten Grenzwertermittlung vereinfacht das ganze Verfahren mitunter doch sehr. Wenn man also berücksichtigt, daß die allgemeine Abbildungsvorschrift den allgemeinen algebraischen Gesetzmäßigkeiten folgend – natürlich – auch in der unabhängigen Variablen n behandelt, und d.h., umgeformt – und dabei insbesondere auch gekürzt – werden kann,  dann läßt sich doch in vielen Fällen relativ bequem nicht nur die Konvergenz einer Folge feststellen, sondern auch deren Grenzwert ermitteln.

Mathematischer Formalismus und konkrete Konstruktion gehen im Begriff bzw. Konzept „unendliche Folge“ eine vergleichsweise enge Verbindung ein. Formal an diesem Konzept ist nur die allgemeine Abbildungsvorschrift. Die Folge als solche läßt sich dagegen nur in einer engen Verbindung zu der den natürlichen Zahlen natürlichen Reihenfolge sehen, und diese Reihenfolge ist in sich konstruktiv. Mathematik gibt es nur, weil es auch die natürlichen Zahlen gibt, und diese Zahlen gibt es nicht formal und abstrakt, sondern nur real und konkret. Im allgemeinen Formalismus der Mathematik wird allerdings Fragen der realen und konkreten Darstellung der natürlichen Zahlen keine Beachtung geschenkt.

 Das muß man wohl auch nicht, wenn man sich nur für die allgemeinen Strukturen in der Menge der natürlichen Zahlen interessiert. Bevor man sich an diesen natürlichen Zahlen für irgend etwas interessieren kann, müssen diese Zahlen allerdings erst einmal vorliegen, und vorliegen können sie nur, wenn sie uns von unserem Verfahren vorgelegt werden, nachdem wir diesem Verfahren endlich viele Zeichen in Reihenfolge vorgelegt haben. Wir legen diesem Verfahren diese Zeichen nicht bereits als natürliche Zahlen vor. Zu natürlichen Zahlen werden diese Zeichen erst durch dieses Verfahren, das aus diesen Zeichen systematisch alle nur möglichen endlichen Zeichenfolgen produziert.

 Man kann in der Mathematik sehr viel ursprünglicher ansetzen, als es in der Literatur allenthalben geschieht. Man muß die natürlichen Zahlen nicht einfach als  gegeben voraussetzen; man kann – und muß – sich diese Zahlen vielmehr geben lassen, sofern wir von diesen Zahlen – potentiell – in ihrer ganzen Nicht-Endlichkeit Gebrauch machen wollen.[49] Wir haben Einblick in die Produktion dieser Zahlen. Eine Begründung der natürlichen Zahlen kann damit sinnvollerweise nur über das diese Produktion steuernde Verfahren erfolgen. Das Problem dabei ist, daß dieses Verfahren nicht formalisierbar ist, und daß es, so wie es konstruiert ist, auch nicht „mathematikfähig“ ist. Man wird von diesem Verfahren mit einer unendlichen Serie von Zeichenfolgen bedient. Dieses Verfahren erschöpft sich in der systematischen Kombination von – endlichen – Zeichenfolgen. Es werden durch dieses Verfahren keinerlei operative Beziehungen zwischen den einzelnen Zeichenfolgen be­gründet. Man weiß, wie die – schlichte und einfache – (Ab-)folge der einzelnen  Zeichenfolgen ist, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Insofern auch kann man sagen, daß dieses Verfahren der – bloßen – Produktion bzw. Demonstration des Phänomens „unendliche Reihenfolge“ dient.

 

 



[47] Erinnert sei dabei wieder an die Modelle von v. Neumann bzw. Zermelo

[48] Siehe dazu O. Forster, Analysis 1, die Sätze 3, 4 und 5 auf S. 21 f.

[49] Stellvertretend für die ganze Literatur sei dazu auf zwei Autoren verwiesen:

1.        H.-J. Reiffen/H.W. Trapp, Analysis 1, S. 24, (§ 4: Die natürlichen Zahlen): „Es geht uns in diesem Paragraphen darum, die natürlichen Zahlen, also die Zahlen 1,2,3,..., und das Rechnen mit ihnen durch einige wenige Regeln („Axiome“) festzulegen“.

2.        A. Oberschelp, Aufbau des Zahlensystems, S. 14 (§ 1 Die Peanoschen Axiome): „Wir setzen die natürlichen Zahlen als gegeben voraus .......Wir betrachten also die Menge N mit den Elementen 0,1,2,... als gegeben“.