Teil I

 

Zahl und Anzahl

 

Kapitel 1

 

Das Phänomen Reihenfolge

 

 

1.1.1 Reihenfolge und Gesetz der Serie

 

I. - Die Besonderheit des Verfahrens zur Produktion bzw. Darstellung der Menge der natürlichen Zahlen besteht darin, daß diese Produktion auch für die Produktion unendlicher Zeichenfolgen offen zu sein scheint. Jedenfalls ist der Länge der in diesem Verfahren produzierten Zeichenfolgen keine Grenze gesetzt. Zu so etwas wie einer unendlichen Zeichenfolge könnte es – natürlich – auch erst am „Ende“ des ganzen Verfahrens kommen, und dann könnte es auch nur zu unendlich vielen solchen unendlichen Zeichenfolgen kommen. Schließlich gibt es nicht weniger unendliche Zeichenfolgen als es endliche Zeichenfolgen gibt – läßt sich doch jede endliche Zeichenfolge auch zu einer unendlichen Zeichenfolge ergänzen – und endliche Zeichenfolgen gibt es jedenfalls schon einmal unendlich – bzw. zumindest nicht-endlich – viele, wie das – unendliche – Verfahren zur Produktion endlicher Zeichenfolgen zeigt. So lange das Verfahren noch läuft, bleibt es beim Aufbau der unendlich vielen endlichen Zeichenfolgen, und d.h. es bleibt beim Aufbau der einen unendlichen Menge „natürliche Zahlen“. Wenn man bei diesem Aufbau immer nur Schritt für Schritt vorgeht – so wie es der diesem Aufbau zugrundeliegende Mechanismus vorschreibt – so kann man aus dem Aufbau dieser einen unendlichen Menge natürlicher Zahlen auch nicht herausfallen. Man kommt auf diese Weise mit diesem Aufbau auch an kein Ende, und deswegen auch ist die Menge der natürlichen Zahlen eine unendliche Menge, eine unendliche Menge von – in der Darstellung ihrer Elemente – endlichen Zeichenfolgen.

Einen – möglichen – Abschluß könnte das ganze Verfahren nur in unendlichen Zeichenfolgen finden. So wie das ganze Verfahren konstruiert ist, könnten am „Ende“ des ganzen Verfahrens nur unendlich viele solcher unendlicher Zeichenfolgen stehen. Es werden in diesem Verfahren aus einer vorgegebenen endlichen Menge von Zeichen alle nur möglichen endlichen Zeichenfolgen verschiedenster Länge bzw. Zusammensetzung gebildet. Jede einmal gebildete Zeichenfolge findet im weiteren Vorgang des Verfahrens jede nur mögliche Fortsetzung. Das führt dann auch dazu, daß mit zunehmender Länge der Zeichenfolgen auch die Menge produzierter Zeichenfolgen anwächst. Aus jeder Zeichenfolge gehen durch jedes zusätzlich gesetzte Zeichen b neue Zeichenfolgen hervor, wenn b die Anzahl der vorgegebenen Zeichen, und d.h. die Basis des gewählten Systems von b-adischer Darstellung ist. Die 17 erfährt beispielsweise im Dezimalsystem die 10 verschiedenen Fortsetzungen 170, 171, 172, 173..., 179. Das ganze fächert sich so immer mehr auf. Es ist dies eine Auffächerung, die in diesem Verfahren von Anfang an so angelegt ist. Eine solche Auffächerung ist notwendiges Element eines Verfahrens, dem die Produktion aller nur möglichen endlichen Zeichenfolgen aus einer vorgegebenen endlichen Zeichenmenge zur Aufgabe gestellt ist. Folgt daraus aber auch notwendig, daß das ganze Verfahren am „Ende“ auch in unendlich viele unendliche Zeichenfolgen zerfällt?

Zu einem solchen Zerfall könnte es jedenfalls nur unter Aufgabe einer Reihenfolge in der Produktion aller dieser unendlich vielen unendlichen Zeichenfolgen kommen. Man kann unendliche Zeichenfolgen nicht in Reihenfolge produzieren. Die Produktion einer unendlichen Zeichenfolge bedarf eines eigenen Verfahrens, und d.h. sie bedarf eines eigenen Gesetzes der Serie. So lange das Verfahren ein gekoppeltes Verfahren ist, wird es in diesem Verfahren auch nur zur Produktion endlicher – wenn auch beliebig endlicher und in diesem Sinne auch unendlich-endlicher Zeichenfolgen kommen können. Das Gesetz der Serie ist dann für alle aus diesem Verfahren hervorgehenden Zeichenfolgen dasselbe. Diesem umfassenden Gesetz der Serie läßt sich allerdings nicht auch ein Gesetz der Serie für die einzelne Zeichenfolge in der Abfolge der darin gesetzten Zeichen entnehmen. 

Wir wissen, wie die ganze Menge natürlicher Zahlen in den diese Zahlen darstellenden Zahlzeichenfolgen in geordneter Reihenfolge zu entwickeln ist; wir wissen allerdings nicht – und wir brauchen so etwas auch nicht zu wissen – wie jede einzelne natürliche Zahl in der ihr eigenen Zahlzeichenfolge entwickelt werden könne. Um beispielsweise die Zeichenfolge 3584 mit einer bestimmten natürlichen Zahl identifizieren zu können, muß man diese Zeichenfolge als diese eine Zeichenfolge in der ihr – allein – eigenen Folge von Zeichen nicht auf ein Gesetz der Serie zurückführen. Das haben wir nicht nötig, weil wir auch so über die Position einer jeden natürlichen Zahl bzw. einer jeden so eine Zahl darstellenden Zahlzeichenfolge in der unendlichen Reihenfolge aller dieser Zahlzeichenfolgen genau informiert sind. Wir wissen genau, wie die Position einer jeden solchen Folge im ganzen System aller dieser Folgen ist.

Natürlich wissen wir dies auch nur, weil wir wissen, wie die eine natürliche Zahl darstellende Reihenfolge von Zahlzeichen in der expliziten Abfolge aller dieser endlich vielen Zeichen zu lesen ist. Ihre Identifizierung erfährt jede natürliche Zahl in der ihr eigenen Zahlzeichenfolge durch den Stellenwert, der einem jeden Zeichen dieser Folge dadurch, daß es eine bestimmte Position innerhalb der ganzen Zeichenfolge besetzt hält, zukommt. Jede Position in einer solchen Zeichenfolge verfügt unabhängig davon, mit welchem Zeichen sie besetzt ist, in der Reihenfolge besetzter Positionen über einen bestimmten Stellenwert, so daß die Anzahl der Positionen, die besetzt sind, und d.h. die Anzahl der Zahlzeichen über die eine Folge solcher Zeichen verfügt, uns die betreffende Zahl bereits als Zahl von einer bestimmten Größenordnung eingrenzen läßt. Davon wird noch ausführlich die Rede sein. Welches eine bestimmte Zahl genau ist, das weiß man allerdings erst dann, wenn man auch weiß, wie die einzelnen Positionen genau besetzt sind. Dazu muß man natürlich auch wissen, welches die Reihenfolge der einzelnen Zeichen ist, weil man auch nur dann weiß, welche Position in der Reihenfolge besetzter Positionen von jedem einzelnen Zeichen besetzt ist. Nur unter diesem Aspekt interessiert die Reihenfolge der einzelnen Zahlzeichen. Ansonsten können die einzelnen Zahlzeichen völlig isoliert von allen anderen Zeichen gesehen werden.

Alle diese Zeichen müssen über das hinaus, daß sie Zeichenfolge zur Darstellung einer bestimmten natürlichen Zahl sind, nichts miteinander zu tun haben. So eine Zeichenfolge muß – wie gesagt – auf kein Gesetz der Serie zurückgeführt werden können, damit diese Folge als eine ganz bestimmte natürliche Zahl identifiziert werden kann. Wir können eine jede natürliche Zahl dann aber auch nur dadurch angeben, daß wir sie in der ihr zugehörigen Zahlzeichenfolge im einzelnen explizit auch benennen. Diese Zeichen müssen dann auch in der Reihenfolge, in der sie die betreffende natürliche Zahl darstellen, angeschrieben werden. Das könnte man sich – wäre die betreffende Zahlzeichenfolge auch durch ein Gesetz der Serie bestimmt – einfach auch dadurch sparen, daß dieses Gesetz der Serie bekanntgegeben wird. Jeder, der an der expliziten Zahlzeichenfolge interessiert ist, könnte sich diese Folge anhand dieses Gesetzes rekonstruieren, und zur Identifizierung der betreffenden natürlichen Zahl würde man dann auch rekonstruieren müssen. Zahlen lassen sich nur über die ihnen in einem bestimmten System von Darstellung eigene Darstellung identifizieren.

Ein Gesetz der Serie mag uns bei dieser Darstellung behilflich sein bzw. es mag uns diese Darstellung in abkürzender Schreibweise darstellen lassen; es würde uns von dieser Darstellung aber nicht entbinden können, wenn eine bestimmte Zahl – explizit – auch dargestellt sein soll. Nur einer explizit entwickelten Serie würde man auch entnehmen können, welche Position mit welchem Zeichen besetzt ist. Bei endlichen Serien bestünde diese Möglichkeit auch immer. Bei unendlichen Serien bliebe eine solche Entwicklung aber notwendig immer Fragment. Man kann eine unendliche Serie auch nicht individuell Element für Element festsetzen wollen. Man käme dabei über eine endliche Serie nicht hinaus. Unendliche Serien beziehen also ihre Existenz notwendig aus einem Gesetz der Serie. Das gilt – mehr noch – auch für die Identität solcher Folgen. Unendliche Folgen lassen sich nicht anders identifizieren als dadurch, daß man das Gesetz der Serie angibt, daß dieser Folge zugrundeliegt[14]. Einen anderen Zugang zu unendlichen Folgen haben wir nicht. Man kann sich unendliche Folgen  nicht – so wie endliche Folgen – vorführen lassen, auf daß sich auf diese Weise die Angabe eines Gesetzes der Serie, dem eine solche Folge folgt, erübrigen würde. Bei endlichen Folgen ist das in allen Fällen, in denen solche Folgen Zahldarstellung dienen, gängige Praxis. Natürlich könnte man an die Beschreibung auch endlicher Folgen durch ein Gesetz der Serie bzw. durch eine Abbildungsvorschrift denken. Eine endliche Folge wäre auch dadurch in ihrer Existenz bzw. Identität eindeutig festgestellt bzw. festgesetzt.

Wenn es um die bloße Festsetzung dieser Existenz bzw. Identität geht, dann genügt so eine Abbildungsvorschrift vollauf. Man kann so eine Folge im übrigen auch per Abbildungsvorschrift ganz willkürlich festsetzen. Der Abbildungsvorschrift als bloßer Abbildungsvorschrift wird sich dann im allgemeinen nur nicht auch ansehen lassen, wie die dadurch definierte Folge explizit aussieht. Dazu müßte diese Folge schon anhand der ihr zugrundeliegenden Abbildungsvorschrift explizit entwickelt werden. Bei endlichen Folgen ist das grundsätzlich auch kein Problem. Vergessen werden darf dabei allerdings nicht, daß die Abbildung, nach der entwickelt wird, notwendig die Menge der natürlichen Zahlen zum Definitionsbereich hat, und deswegen auch der Einschränkung dieses Definitionsbereiches auf eine endliche Teilmenge der natürlichen Zahl bedarf, soll auch das Bild dieser Abbildung und d.h. soll die daraus hervorgehende Folge eine endliche Folge sein. Die Einschränkung des Definitionsbereiches hat präziser noch so zu erfolgen, daß nur die natürlichen Zahlen von 1 bis n für ein gewisses natürliches n Berücksichtigung finden.

 

 II. - Der – reguläre – klassische Folgenbegriff ist ein in Abhängigkeit von den natürlichen Zahlen definierter Begriff. Folgen sind von daher immer auch unendliche Folgen. Jede Folge hat so viele Folgenglieder als die Menge der natürlichen Zahlen Elemente enthält. Folgen können von daher auch nicht abbrechen. Folgen folgen grundsätzlich der Reihenfolge der natürlichen Zahlen. Insbesondere kann es in der Reihenfolge der Folgenglieder einer Folge – bezogen auf die Reihenfolge der natürlichen Zahlen – keine Leerstellen geben. Es kann kein Folgenglied geben, der keine natürlichen Zahl zugeordnet wäre, wie es umgekehrt keine natürliche Zahl geben kann, der nicht auch ein Folgenglied entsprechen würde. Im Gegensatz zu Mengen, die definitionsgemäß nur über verschiedene Elemente verfügen können, können sich die Glieder einer Folge aber wiederholen. Das kann im Extremfall so aussehen, daß eine ganze – unendliche – Folge in allen ihren Folgengliedern aus ein und demselben Element besteht. Solche Folgen werden bekanntlich konstante Folgen genannt. Auf die Reihenfolge, in der die einzelnen Folgenglieder gesetzt werden, kommt es dabei natürlich nicht mehr an. Konstante Folgen werden dadurch zu keinen anderen Folgen, daß die einzelnen Folgenglieder in eine(r) anderen Reihenfolge "gebracht" werden.

Diese Feststellungen sind vor dem Hintergrund des – noch ausgiebig zu diskutierenden – mathematisch-philosophischen Modells der natürlichen Zahlen zu sehen, das sich nur eines Zeichens bedient und insofern auch nur für konstante Folgen – endliche wie unendliche – gut ist. Für dieses System wären die gerade aufgestellten Überlegungen obsolet. Die Berechtigung dieser Überlegungen im klassischen System von Zahldarstellung folgt daraus, daß sich uns unendliche Folgen nur über ein Gesetz der Serie erschließen. Und wie sich das im Falle der klassischen Zahldarstellung mit diesem Gesetz im Unendlichen – konkret-materiell – darstellt, darüber kann man sich und sollte man sich auch Gedanken machen. Im mathematisch-philosophischen Modell erübrigen sich – wie gesagt – solche Überlegungen. Dort kann es auch im Unendlichen nur zu einer Zeichenfolge kommen, die in allen ihren Folgengliedern ausschließlich aus diesem einen Zeichen besteht.

Unendliche Folgen sind also von Natur aus bzw. von Definitions wegen in der Reihenfolge der natürlichen Zahlen geordnete Folgen. In der Reihenfolge der Folgenglieder so einer Folge könnte man natürlich variieren. In der Mathematik steht dafür der Begriff "Umordnung". Und von solchen Umordnungen ist zu sagen, was für eine jede unendliche Folgen auch gilt: Sie definieren sich über ein Gesetz der Serie, und d. h. sie definieren sich über eine bijektive Abbildung von  nach . Jedes Folgenglied erhält dabei einfach einen anderen – natürlichen –  Folgenindex. Es kommt dann in der Reihenfolge der Folgenglieder an einer anderen Stelle zu liegen. Wenn  die Umordnung definiert, dann findet sich das ursprünglich an der n-ten Stelle der Folge stehende Folgenglied an der  Stelle wieder. Die Reihenfolge der Folgenglieder wird dadurch zu einer anderen, auch wenn diese Reihenfolge dann auch wieder nur eine Reihenfolge in der Reihenfolge der natürlichen Zahlen ist.

Man muß bei dem Phänomen Reihenfolge einfach unterscheiden zwischen dem, was in Reihe geordnet ist, und dem Phänomen Reihenfolge als solchem. Dieses Phänomen ist immer und überall, wo es verwirklicht ist, dasselbe. Es gibt Reihenfolge als Phänomen nur einmal. Es mag eine Menge von Elementen – ob endlich oder unendlich ist egal – auf die verschiedenste Weise in eine Reihenfolge gebracht sein. Die Reihenfolge in der Abfolge der Elemente ist dann jeweils eine verschiedene. Die Reihenfolge in der Abfolge gesetzter Positionen, und d.h. das Phänomen Reihenfolge als Reihenfolge ist in allen Fällen dabei aber dasselbe. Es gibt Reihenfolge abstrakt als ein System von geordneten Leerstellen, die von jeder endlichen wie auch von jeder abzählbar unendlichen Menge auf vielfältige Weise ausgefüllt werden können. Bei endlichen Mengen läßt sich das der Anzahl nach auch genau beziffern. Umfaßt eine endliche Menge n Elemente, so ist die Anzahl der Möglichkeit, diese n Elemente in eine verschiedene Reihenfolge zu bringen, genau n![15]

   

III. - Unendliche Zeichenfolgen, so wie sie Bestandteil unendlicher b-al-Brüche sind, erschließen sich uns nur über ein Gesetz der Serie. Das, was bei endlicher Zahldarstellung, und d.h. was insbesondere bei der Darstellung natürlicher Zahlen eine wenig empfehlenswerte und auch so gut wie nicht geübte Praxis ist, die Darstellung einer Zahl per Gesetz der Serie nämlich, bei unendlicher Zahldarstellung ist dies die einzige Möglichkeit der Darstellung. Dieses Gesetz der Serie dient dabei aber auch nur der Feststellung bzw. Festsetzung der unendlichen Zeichenfolge einer unendlichen Zahldarstellung, nicht aber auch der konkreten Identifizierung einer solchen Folge mit einer bestimmten Zahl. Wir können uns aufgrund eines solchen Gesetzes Teilfolgen beliebiger Länge dieser einen unendlichen Zeichenfolge rekonstruieren. Wir könnten uns weiterhin auch – wenn denn dieses Gesetz der Serie die Form einer Abbildungsvorschrift hat, so wie sie für gewöhnlich unendlichen Folgen auch zugrunde liegt – gezielt einzelne Zeichen dieser Zeichenfolge entsprechend der Position, die sie in der Reihenfolge dieser Zeichen einnehmen, herausgreifen. Wir bräuchten dazu in die Abbildungsvorschrift nur die dieser Position entsprechende natürliche Zahl einzusetzen, und den darin vorgesehenen Operationen zu unterziehen. Bei der Identifizierung der durch eine unendliche Zeichenfolge dargestellten Zahl – einer Situation wie wir ihr in den Bruchkomponenten unendlicher b-al-Brüche begegnen – wäre uns mit über die ganze Zeichenfolge verstreuten Einzelzeichen natürlich nicht gedient.

Das ist auch bei endlicher Zahldarstellung nicht anders. Bei Zahldarstellung kommt es grundsätzlich auf jedes Zeichen an. Solche Zeichenfolgen möchten schließlich mit einer ganz bestimmten Zahl identifiziert werden, und dann müssen sie entsprechend dem System, in dem so eine Darstellung erfolgt, gelesen werden. Dadurch, daß eine – endliche – Zeichenfolge vorliegt, ist diese Zeichenfolge nicht schon auch als eine ganz bestimmte Zahl identifiziert. Was endliche Zahldarstellung anbelangt, und d.h., was die Darstellung insbesondere natürlicher Zahlen anbelangt, so haben wir das System der Darstellung dieser Zahlen allerdings in einer Weise bereits verinnerlicht, die uns zwischen der Realisierung einer endlichen Zeichenfolge als endlicher Zeichenfolge und der Identifizierung dieser Zeichenfolge mit einer bestimmten natürlichen Zahl nicht mehr unterscheiden läßt. Wir sehen nicht eigentlich die Zeichenfolge, um von dieser auf die dadurch dargestellte Zahl zu schließen, wir sehen vielmehr in der einzelnen Zeichenfolge die dadurch bestimmte natürliche Zahl.

Bei unendlicher Zahldarstellung ist das ganz anders. Dort haben wir die Möglichkeit, auf das Ganze der Zahldarstellung zu sehen, nicht erst, und folglich entfällt damit auch die Möglichkeit, über die Zeichenfolge auch gleich zur Identifizierung der dadurch bezeichneten Zahl zu kommen. Unendliche Zahldarstellung gibt es grundsätzlich nur im Fragment. Als Ganzes gibt es unendliche Zahldarstellung nur in Form und Gestalt eines Gesetzes der Serie. Dieses Gesetz der Serie läßt uns in seinem Gesetzestext – sofern dieser die Form und Gestalt einer Abbildungsvorschrift mit den natürlichen Zahlen als Definitionsbereich hat – aber gerade nicht die in diesem Text beschriebene Zahl ablesen. Es ist so ein Gesetz eine Anleitung zur (Re-)produktion einer unendlichen Zeichenfolge, die in einem bestimmten System von Zahldarstellung dann eben auch eine ganz bestimmte Zahl darstellt. Findet diese bestimmte Zahl nur über eine unendliche Zeichenfolge zu ihrer Darstellung, dann darf man sich in dieser Darstellung auch nicht mit weniger begnügen, sondern hat auf das Ganze der betreffenden unendlichen Zeichenfolge zu sehen. Wo uns das – wie bei unendlichen Folgen – nicht in Form und Gestalt der konkreten und expliziten Zeichenreihe möglich ist, haben wir uns nach einem gleichwertigen Ersatz dafür umzusehen und dieser Ersatz kann nun einmal in nichts anderem als einem Gesetz der Serie bestehen, das diese ganze unendliche Zeichenfolge schon immer in sich vereint.

Es ist dies, wie gesagt, der einzig mögliche Zugang zu unendlicher Zahldarstellung. Es ist dies aber auch ein Zugang, der sich unendlicher Zahldarstellung von einer Seite her nähert, die wenig für die Identifizierung der solcherart begründeten unendlichen Zeichenfolge mit einer bestimmten reellen Zahl abgibt. Der Gesetzesvorschrift allein läßt sich nicht entnehmen, welches diese Zahl in einem bestimmten System von Zahldarstellung ist. Dazu müßte man den Grenzwert der unendlichen Folge, so wie sie durch die Abbildungsvorschrift unter Zugrundelegung eines bestimmten Systems von Zahldarstellung gesetzt ist, kennen. Bekanntlich aber läßt sich der Abbildungsvorschrift einer unendlichen Folge nicht einfach entnehmen, welches der Grenzwert der Folge ist, sofern die Folge auch einen Grenzwert hat.

 Es gibt dafür eine Definition,[16] und es gibt dafür auch Kriterien, die uns feststellen lassen, ob eine Folge eine konvergente Folge ist oder nicht. Es gibt jedoch kein Verfahren, daß uns diesen Grenzwert explizit berechnen ließe, wenn man einmal von der besonderen Klasse von Folgen mit Grenzwert Null – den sogenannten Nullfolgen – absieht. Nullfolgen lassen sich im allgemeinen auch vergleichsweise bequem als Nullfolgen nachweisen. Es muß dafür nur gezeigt werden, daß die Folgenglieder ab einem genügend hohen Folgenindex dem Betrag nach jeden beliebig klein vorgegebenen Wert unterschreiten. Dafür genügen im allgemeinen einfach strukturierte Abschätzungen, wie sie sich – falls nötig – vermittels geeigneter Umformungen der Abbildungsvorschrift vornehmen lassen. Das besondere an Nullfolgen besteht darin, daß die Annäherung an den Grenzwert Null mit der zur Feststellung dieser Annäherung in begleitender Weise – imaginär – zu bildenden Folge immer kleinerer, weil beliebig vorzugebender e-Werte parallel läuft. Die Folgenglieder müssen immer kleinere Abstände zum Nullpunkt einhalten, und das können sie nur, wenn diese Folgenglieder mehr oder weniger alle selbst einmal Null werden.

Diese Parallelität besteht in der Form nur bei Folgen mit Grenzwert Null. Bei allen anderen konvergenten Folgen entspricht der Grenzwert der Abstände der Folgenglieder zum Grenzwert der Folge – also dem Wert Null – nicht auch diesem Grenzwert selbst. Das erschwert dann natürlich die Feststellung des Grenzwertes einer Folge. Das Instrument der Abschätzung läßt sich dann nicht auch in gleicher – einfacher – Weise wie bei Nullfolgen einsetzen. Man kann eine beliebige Folge auch nicht zu einer potentiellen Nullfolge dadurch machen, daß man jedes Folgenglied um den – angenommenen – Grenzwert der Folge reduziert. Zu einer Nullfolge würde eine Folge auf diese Weise nur dann, wenn der in Abzug gebrachte Wert auch wirklich der Grenzwert der unveränderten Folge ist. Ein – mangels konkreter Berechnungs­möglichkeiten – mehr oder weniger nur intuitiv angesetzter Wert wird sich dabei auch nur mehr oder weniger zufällig als tatsächlicher Grenzwert der Folge herausstellen können.

  Konstruktiv ist dieses „Verfahren“ zur Grenzwertermittlung natürlich nicht. Dieses „Verfahren“ ist weder in Fragen der Konvergenz noch in Fragen der Divergenz einer Folge kompetent. Was die explizite Berechnung des Grenzwertes von Folgen betrifft, so gibt es dafür – wie gesagt – auch kein konstruktives Verfahren. Es gibt auch nicht sehr viel an allgemeinen Kriterien, die uns die Konvergenz einer Folge feststellen ließen, ohne dafür auch gleich mit einem Grenzwert dienen zu können. Sehr viel besser gestellt sind wir da schon, was unendliche Reihen anbelangt.[17] Diesbezüglich liegen eine Reihe von Konvergenzkriterien vor, die uns eine Reihe auch in Unkenntnis ihres Grenzwertes auf ihre Konvergenz oder auch Nicht–Konvergenz hin überprüfen lassen.[18] Konvergente Reihen verfügen über gewisse notwendige Eigenschaften, ohne die eine Reihe nicht auch eine konvergente Reihe sein könnte. Verfügt eine Reihe über eine solche Eigenschaft nicht, wäre sie allein dadurch schon als nicht konvergente Reihe nachgewiesen. Umgekehrt kann aus dem Vorliegen einer notwendigen Eigenschaft konvergenter Reihen nicht auch schon auf die Konvergenz einer Reihe geschlossen werden. Dazu bedarf es dann schon einer zureichenden Eigenschaft, einer Eigenschaft, die deswegen nicht auch notwendige Eigenschaft für Konvergenz sein muß. Es gibt allerdings schon auch diese Eigenschaften, die sowohl notwendige als auch zureichende Bedingung für die Konvergenz einer Reihe sind.[19] Es sind dies Eigenschaften, die in mathematischen Sätzen dann als „genau dann – Eigenschaften“ geführt werden. So gesehen sind das alles auch definierende Eigenschaften, Eigenschaften also, die auch zu Definitionszwecken herangezogen werden können.

 

 

 



[14] Zur allgemeinen Definition von Folgen reeller Zahlen, siehe O. Forster Analysis 1, S. 18. „Unter einer Folge reeller Zahlen versteht man eine Abbildung . Jedem  ist also ein  zugeordnet. Man schreibt hierfür  oder ( .

[15] Siehe dazu O. Forster, Analysis 1, Satz 3 auf S. 3.

[16] Eine Folge  heißt konvergent gegen – den Grenzwert –  (in Zeichen:  ) falls gilt: Zu jedem gibt es ein  so daß  für alle .

[17] Zur Definition unendlicher Reihen siehe O. Forster. Analysis 1, S. 23 f. „Sei  eine Folge reeller Zahlen. Die Folge  der Partialsummen heißt (unendliche) Reihe und wird mit   bezeichnet. Konvergiert die Folge , so wird ihr Grenzwert ebenfalls mit   bezeichnet.  bedeutet also zweierlei:

1) die Folge  der Partialsummen.

2) im Falle der Konvergenz den Grenzwert .

[18] Siehe dazu O. Forster, Analysis 1, § 7 S. 37 ff.

[19] Eine allgemeine Diskussion der Begriffe „notwendige bzw. zureichende Bedingung“ findet sich in A. Drexler: Das kausale Band S. 280 f.